: Der junge Mann und das Meer
AUS ESSEN UND BOCHUM SASCHA TEGTMEIER
Ein Kajak auf dem Ozean ist wie ein Tanker auf dem Baggersee. Beide gehören dort einfach nicht hin. Weil aber ein Kajak kein Tanker ist, schaukeln die mächtigen Wellen des Atlantik das grüne Boot auf und ab, als wollten sie mit ihm spielen. Aber das ist kein Spiel. Tim Weltermann ist sehr allein auf dem Atlantik und noch sehr weit von der Karibik entfernt. Der warme Wind weht nur mäßig in das kleine Segel. Und doch muss Tim in das Satellitentelefon brüllen, damit ihn seine Familie in Essen-Kettwig versteht: „Schwesterchen, guck doch mal, was der Passat macht. Nicht, dass der mich irgendwo hintreibt, wo ich nicht mehr wegkomme!“
Es ist der zehnte Tag seiner Reise. Tim klingt nicht ängstlich, er klingt begeistert – adrenalingestärkt wie ein Boxer nach der ersten Runde. Er gibt seine Position durch: 25,3 Grad Nord, 19,3 Grad West. Noch versorgen die Batterien das GPS-Gerät mit genügend Strom. Tim ist 25 Jahre alt. Er will den Nordatlantik überqueren, von Gran Canaria nach Antigua in der Karibik. 300 Seemeilen hat er schon geschafft, ein Zehntel der Strecke.
Das war am 4. November vergangenen Jahres. Sechs Monate später nun dröhnt Tims Stimme aus einem Diktiergerät, das seine Mutter fest und liebevoll in der Hand hält. Seit jenem Dienstag hat Christa Weltermann nichts mehr von ihrem Sohn gehört. Niemand weiß, wo er ist und ob er noch lebt. In 80 Tagen, so hatte er geschätzt, würde er den Nordatlantik überquert haben.
Manche Menschen wollen an Gummiseilen von Brücken springen, mit 240 über die Autobahn rasen, barfuß den Everest bezwingen oder im Kajak den Atlantik. Vielleicht müssen sie das sogar tun. Um zu spüren, dass sie noch am Leben sind. Um dem Alltag zu entfliehen oder der Enge. Vielleicht hoffen sie etwas ganz Großes zu schaffen. Tim Weltermann hatte einfach einen Traum. Und er wollte keiner sein von denen, die nur reden. Also ist er losgefahren. Über 200 Tage ist das jetzt her.
Christa Weltermann trägt tiefe Ringe unter Augen. Die Sorgen haben sich in ihr Gesicht gegraben. Sie will die Hoffnung nicht aufgeben, ihren Sohn wiederzusehen. „Wir schieben den Termin immer weiter hinaus. Aber von Tag zu Tag wird die Wahrscheinlichkeit natürlich geringer.“ Sie sagt das mit einer traurigen Nüchternheit, wie sie wohl Hospiz-Betreuerinnen irgendwann zu Eigen wird. „Damals hatte er schon den ersten Sturm mit sieben Meter hohen Wellen hinter sich“, erzählt sie. Das sei „wie Wellenreiten“ gewesen, habe er berichtet. Wahrscheinlich mit jenem Mut in der Stimme, der sich einstellt, wenn die Gefahr vorüber ist.
Die grünen Hügel des Essener Südens leuchten durch das große Wohnzimmerfenster der Familie Weltermann. Auf dem Glastisch steht das Foto von Tim. Mittlerweile dient es zur weltweiten Fahndung: Stopplige blonde Haare, sportliche Figur. Er hat ein jungenhaftes Gesicht und blickt verträumt in die Ferne. Und es fällt schwer, ihn sich so in einem fünf Meter langen Kajak allein auf dem Atlantik vorzustellen.
In den vorderen Sitz hat er einen Mast befestigt, an dem ein selbst genähtes Segel hängt. Ein blauer Eimer dient Tim als Toilette. An die Seiten des Bootes sind Ausleger angebaut – Alustangen mit Gummischläuchen am Ende, die das Kajak vorm Kentern bewahren sollen. Oder sollten?
Christa Weltermann kniet sich auf das helle Parkett und breitet eine Seekarte aus, auf der sie Tims letzte bekannte Position mit Bleistift eingezeichnet hat. Von diesem Kreuz aus sucht sie die Karte mit dem Zeigefinger ab. Dann streicht sie die Küsten Lateinamerikas auf und ab. Wo könnte er gestrandet sein? Eine unbewohnte karibische Insel? Brasilien? Ist er an Antigua, an den Kleinen Antillen, vorbeigesegelt? Und nun vor Panama auf den San-Blas-Inseln? Oder ist er noch auf See?
Sie zeigt die zwei Meeresströmungen, die Tim helfen sollten, die Karibik zu erreichen: der Kanarische und der Nordäquatorianische Strom. „Mütterchen“, hatte Tim gesagt, „wenn du auf den Kanaren eine Tonne ins Meer wirfst, dann kommt sie in Antigua an.“ Doch kurz nach Tims Start fegte ein tropischer Sturm über den Atlantik. Die Metereologen haben ihn Peter getauft. „Wenn er dort hineingeraten ist“, beginnt Christa Weltermann und unterbricht sich sofort. Es bleibt das Unaussprechliche. „An manchen Tagen kann ich ein einfach nur noch weinen“, sagt sie dann.
Haare, Röntgenaufnahmen und Gebissabdrücke von Tim hat sie für die Polizei zusammen gesucht. Falls er tatsächlich gestorben ist und falls er dann gefunden würde, könnte er damit identifiziert werden. Viele Konjunktive. „Manchmal habe ich schon das Gefühl, dass er nicht mehr lebt“, sagt sie, „doch das schlimmste ist die Ungewissheit.“
Bis Mitte Februar hatte Christa Weltermann auf ein Lebenszeichen von Tim gewartet. Dann hielt sie es nicht mehr aus: Sie stellte eine Suchseite ins Internet und bat den deutschen Honorarkonsul auf Antigua um Hilfe bei der Suche. Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger schickte zwei Wochen lang eine Suchmeldung über den Atlantik. Alles ohne Erfolg. Von Tim, dem Kajak und seiner Ausrüstung fehlen bis heute jede Spur.
Dieser große Traum spukte schon lange in Tims Kopf. Als Sechsjähriger soll er im Wald Holz gesammelt haben, um sich ein Boot dafür zu bauen. Früh hat er Berichte über Atlantiküberquerungen und Fachbücher über Schifffahrt und Navigation gelesen. Sein Lieblingsroman: Hesses Steppenwolf, die Bibel aller Einzelgänger. Mit 25 wagte er sein Abenteuer nun.
Die Pläne dazu hat er lange für sich behalten. Als Erster wusste Arne Tilgen davon. Seit der fünften Klasse ist er mit Tim befreundet. „Er wollte das unspektakulär machen“, sagt Arne, „still, leise, für sich.“ Ohne Sponsoring, ohne Presse. Niemand hätte ihn von seinem Traum abbringen können, glaubt Arne: „Tim war ein Dickkopf!“ Das sei schon immer so gewesen. War. Gewesen. Arne ist ein rationaler Mensch. Rationaler vielleicht als Tim.
Mit 18 Jahren hat Tim sich überraschend vom Gymnasium abgemeldet, nach neun Monaten Zivildienst wird er zum Totalverweigerer und muss fast ins Gefängnis. Er zieht in ein Künstlerhaus, malt und stellt seine abstrakten Bilder aus. Doch er wollte aus Essen raus. Er wird Beleuchter beim Zirkus Roncalli und tourt zwei Jahre lang durch Europa. Es ist aber nur ein Job, um Geld zu verdienen – Geld für sein eigentliches Projekt.
Erst vier Wochen vor dem Abflug nach Gran Canaria erzählt Tim es schließlich seiner Familie. „Ich wusste sofort, dass wir ihn nicht aufhalten können“, sagt Christa Weltermann. Sie bestellte das Satellitentelefon für ihn. Doch die Zeit reichte nicht mehr, um es richtig aufzuladen. Auch die Ersatzbatterien nimmt Tim nicht mit. „Er war Purist“, sagt Arne, „er wollte das Telefon nicht, er wollte keine Sicherheit.“
Am Ende musste alles sehr schnell gehen. Denn das Kajak wurde zu spät geliefert. Innerhalb von drei Wochen musste Tim das Boot seetauglich machen. Er bastelte ununterbrochen in einer Garage. Erst am Abend, bevor er das Kajak zum Flughafen bringt, wird es fertig. Für eine Probefahrt bleibt keine Zeit mehr.
Dass Tim das Kajak nicht vorher getestet hat, ist für Heinz Zölzer der größte Fehler. „Der hätt sich mitem Kanu ma ’n paa Tage aufn See setzen solln“, wettert er. Für einen Mann im Rentenalter ungewöhnlich aufbrausend. In seinem kleinen Bootsladen an der Ruhr hat Tim den Großteil seiner Ausrüstung gekauft. Zölzer deutet mit seinem muskelbepackten Arm auf ein Kajak, Prijon Excursion, Tims Modell: „Annem Boot hat dat nich jelegen.“
Das Problem bei einer solchen Tour sei immer im Kopf, sagt Zölzer und klopft sich gegen die Stirn. Er selbst habe schon so manche Tour auf der Nordsee gemacht. Und eines kann Zölzer gleich gar nicht verstehen: Warum Tim kein „Iperb“ mitgenommen hat. Im Notfall hätte er an dem Gerät nur einen Hebel umlegen müssen und über Satellit wäre sofort SOS gesendet worden.
„Ich habe aus moralischen Gründen solche Notrufgeräte nie mitgenommen. Niemand sollte für mich sein Leben riskieren müssen“, sagt Hannes Lindemann, Tims großes Vorbild. Er hat 1956 in einem Faltboot den Atlantik überquert. Heute ist er 82 Jahre alt und findet, Tim habe sich verantwortungsvoll vorbereitet und „wenn ich damals auf die ganzen Klugscheißer gehört hätte, wäre ich nie losgekommen“. Lindemann glaubt nicht daran, dass Tim noch lebt. Stürme und Haie seien die eine, die Psyche aber eine schlimmere Gefahr: „Wahnvorstellungen und Halluzinationen können einen in den eigenen Tod treiben“, sagt er.
Auch Arne hat kaum noch Hoffnung, seinen Freund lebend wiederzusehen. „Wenn ich Ende Februar nicht zurück bin, kannst du mein Fahrrad haben“, hatte ihm Tim vor seinem Abflug gesagt. Er hat mit ihm zusammen das Boot zum Flughafen gebracht.
Am Nachmittag des 25. Oktober 2003 landet Tim auf Gran Canaria. Vom Flughafen aus läuft er in die Bucht Playa de ojos de garza. Das Kajak zieht er auf einem kleinen Bootswagen hinter sich her. Alles wie geplant. Er übernachtet bei einem Einheimischen im Garten, am nächsten Morgen hilft der ihm das Boot ins Wasser zu setzen.
Tim segelt bei heiterem Himmel und leichtem Südostwind aus der Bucht heraus und fährt an den Kanarischen Inseln vorbei. „Das war seine Teststrecke“, erzählt Christa Weltermann, „falls etwas mit dem Boot nicht gestimmt hätte, hätte er an einer anderen Insel angelegt.“ Nach der Insel El Hierro kommt das offene Meer, der point of no return.
Wenige Tage später entdeckt die britische Besatzung einer Segeljacht Tim durch ihr Fernglas. Sie fahren heran und filmen ihn, das kleine Kajak und die dunklen Wellen. Es sind wackelige Bilder. Die Briten sind die Letzten, die Tim Weltermann gesehen haben, am 31. Oktober. „Er sah gut gelaunt aus, als würde er seine Reise genießen“, erinnert sich einer von ihnen, Chris Plowman. Sie fragen Tim, ob er Essen oder Wasser braucht. Sie bieten ihm sogar an, ihn mit in die Karibik zu nehmen. Tim wollte das alles nicht. Er wollte es allein schaffen.
Seine Mutter hofft immer noch, dass er es schaffen wird. Doch an einen Satz von ihrem Sohn muss sie immer wieder denken: „Wenn ihr irgendwann nichts mehr von mir hört, dann bin ich halt tot.“