: „Ich bin nun mal die Nummer 2“
Interview MARKUS VÖLKER und THOMAS WINKLER
taz: Herr Zabel, Tirreno–Adriatico, 1993, wissen Sie noch?
Erik Zabel: Aber sicher doch. Das war eine verdammt schwere Etappe, gleich die erste, mit einem Berg kurz vorm Finale. Ich habe gelitten ohne Ende, aber als wir oben ankamen, waren wir nur noch 25 Mann. Dann hab ich mein Herz in die Hand genommen und habe den Spurt gewonnen. Mein erster Profisieg.
Wissen Sie genau, wie viele Rennen Sie seitdem gewonnen haben?
Nein, mein Vater hat den Überblick. Ist ja auch nicht ganz einfach. Es heißt: „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, und in manchem Land wird jedes Kirmesrennen mitgezählt. Ich gehe da nach dem internationalen Kalender vom Weltverband, und danach dürften es mittlerweile um die 170 Siege sein.
Sind Sie verdammt zum Siegen, Sie als Sprinter?
Es gab eine Zeit, da waren die Siege zur Normalität geworden. Da stumpft man als Rennfahrer ab. Jetzt ist es wieder schön, zu gewinnen. Entscheidend ist: Ich habe mir jetzt meine eigene Wirklichkeit geschaffen. Es interessiert mich nicht mehr, welches Urteil sich der Leser bildet, der sich morgens beim Bäcker seine Bild-Zeitung kauft. Daran habe ich mich viel zu lange orientiert.
Dafür bestimmt Sie Ihr Ehrgeiz.
Ob man mir das jetzt abnimmt oder nicht: Einen Meter nach der Ziellinie ist so ein Misserfolg abgehakt. Das ist bei einem Sieg genauso.
Ihre Arbeitseinstellung ist legendär. Ihr großer italienischer Sprinterkonkurrent Mario Cipollini meinte unlängst, wenn er den Klassiker Mailand–San Remo gewinnt, würde er eine Woche lang nur feiern, während Sie schon zum nächsten Rennen hasten.
Mir würde eine Woche Feiern nichts bringen.
Wir müssen uns also keine Sorgen um Ihren Ehrgeiz machen?
Auch das ist mir eigentlich egal, ob Sie sich Sorgen machen. (lacht) Es ist doch so: Man soll sich himmelhoch jauchzend über Siege freuen, aber in der Niederlage darf man sich nicht ärgern. Warum? Wer bei einem Rennen aussteigt und später erklärt, dass sei alles so geplant gewesen – darüber sollte man sich ärgern. Genau solche sandgestrahlten, chemisch gereinigten Typen kotzen mich an. Keiner traut sich zu sagen: Ich war heute einfach richtig schlecht, basta.
Wann hat Sie denn diese neue Lockerheit ereilt?
Es gab keinen Tag X, an dem ich gesagt habe, ich bin jetzt ein neuer Mensch. Einer, der weniger verbissen ist. Ich fand ja grundsätzlich immer Rennfahrer toll, die zu ihren Emotionen standen. Es gab mal eine Situation bei der Tour, da wollte Jan [Ullrich], dass bei einer Bergetappe am Col de Madeleine Tempo gefahren wird, und dabei ist unsere halbe Mannschaft in die Luft geflogen.
In die Luft geflogen?
Sie konnten das Tempo nicht mehr mitgehen. Und irgendwann hat Andreas Klöden gesagt: Ach, macht doch euren Scheiß allein, und hat dabei eine abfällige Handbewegung gemacht. Eigentlich eine völlig menschliche Reaktion, aber das kam dann 17-mal hintereinander im Fernsehen, und alle Welt hat darüber spekuliert, was nun bei uns los ist. In der Mannschaftsbesprechung kamen bei uns natürlich Diskussionen auf: Das kann man nicht machen vor der Kamera … was soll denn der Sponsor denken … wir müssen uns besser verkaufen. Aber ich fand das super, dass er das mal zeigt.
Aber in Ihrer neuen Rolle als Mannschaftskapitän sind Sie oberster Repräsentant des Teams und müssen vorsichtig und diplomatisch sein.
Du kannst als Rennfahrer nur alt werden, wenn es ein Geben und Nehmen gibt. Ich habe in meiner Karriere sehr viel Hilfe bekommen von den Jungs. Und jetzt ist für mich die Zeit gekommen, etwas zurückzugeben. Sicher gibt es immer wieder Rennfahrer, die lassen nur die andern für sich fahren. Das beste Beispiel dafür war Eddy Merckx. Der brauchte alle zwei Jahre eine komplett neue Mannschaft, weil seine Helfer verbrannt waren. Deshalb ist er der größte Rennfahrer aller Zeiten. Aber diese Zeiten sind im Radsport vorbei.
Wie sieht Ihre neue Rolle konkret aus beim Team Telekom? Ein Kapitän im klassischen Sinn sind Sie ja nicht.
Nein, ein klassischer Kapitän ist einer, der die Tour de France gewinnen soll. Dafür fehlen mir nun mal die körperlichen Voraussetzungen. Aber wir haben fünf, sechs Jungs in der Mannschaft, die bei der Tour auf die Gesamtwertung fahren können. Ich habe die Aufgabe, die Situation einzuschätzen: Wer am besten nach vorne geht und eine Attacke versucht. Und wenn der es nicht schafft, kommt der nächste dran. Und so weiter.
Diese Entscheidung treffen Sie?
Die trifft in erster Linie natürlich der Sportliche Leiter. Aber wenn das Rennen erst mal läuft, ist der Leiter in seinem Auto weit hinten und sieht den ganzen Tag nur die abgehängten Rennfahrer. Es gibt zwar Fernsehen im Auto, aber nur einen kleinen Bildschirm. Als Rennfahrer kann man aber einem Konkurrenten oder einem Mannschaftskameraden in die Augen blicken und selbst einschätzen, wie die drauf sind.
Die Verantwortung teilen zu können ist neu für Sie. Wäre Ihnen früher Ihr Ehrgeiz im Weg gestanden?
Als Berufsrennfahrer musst du immer machen, was dein Chef dir sagt. Das ist die Grundvoraussetzung, um ein vernünftiger Profi zu werden. Aber sicherlich fällt mir das inzwischen etwas leichter, weil man als junger Profi eigentlich jeden Tag um seine Existenz kämpft.
Sie selbst kämpfen längst nicht mehr um Ihre Existenz, aber standen während Ihrer Karriere immer im Schatten eines gewissen Tour-de-France-Siegers.
Das ist ein grundsätzliches Problem. Eines der wichtigsten Eintagerennen ist die Flandern-Rundfahrt. Sollte die mal wieder ein Deutscher gewinnen, wird sich der durchschnittliche Zuschauer vor dem TV-Schirm fragen: Wie viele Etappen hat denn diese Flandern-Rundfahrt? In dieser Situation befinden wir uns eben. Der Radsport ist nicht nur die Tour de France.
Sie haben unter dieser Unwissenheit zu leiden. Ärgert Sie das?
(grinsend) Nein.
Soll man das glauben?
Man kann Jan ja nicht nur auf den Tour-Sieg 1997 reduzieren. Das ist schon ein ganz guter Rennfahrer. Und dass sein Bekanntheitsgrad auf dem Niveau eines Franz Beckenbauer oder Boris Becker ist, liegt nicht nur an seinen privaten Eskapaden, die ein gefundenes Fressen für die Medien waren. Ohne Jan und ohne diesen ersten deutschen Tour-Sieg wäre der Radsport nicht da, wo er heute steht. Da hätten ein Olaf Ludwig oder ein Zabel so viele Tour-Etappen gewinnen können, wie sie wollten, da wären wir alle zusammen nicht hingekommen. Auch ich hätte nicht die Verträge, wie ich sie heute habe, ohne Jans Tour-Sieg von 1997. Das ist doch die Realität, der kann man sich nicht verschließen.
Ist in Deutschland dennoch das Bewusstsein für Radsport nicht weit genug entwickelt?
Wir können uns doch nicht beschweren. Ich bin schon zu Zeiten Profi gewesen, da hatten wir noch ein Posthorn auf dem Trikot, und wenn wegen eines Radrennens die Straße gesperrt war, dann sind die Autofahrer fast ausgeflippt. Außerdem ist es gar nicht mein Ziel, jeden Tag wie Dieter Bohlen in der Bild-Zeitung zu stehen. Ich kriege keine Pickel, wenn ich nicht auf Seite 1 stehe, so ein Typ bin ich nicht. Ich bin damit zufrieden, wie es ist. Ich kann mir bestimmte Dinge noch erlauben, die anderen versagt sind. Wenn Bohlen in Hamburg einen Pups lässt, dann riecht es am nächsten Tag ganz Deutschland. Bei Jan wäre es ähnlich.
Werden Sie als verkanntes Genie in Erinnerung bleiben?
Ich werde in Deutschland nicht als verkanntes Genie enden. Ein Platz im deutschen Radsport-Olymp ist mir sicher. Das verleiht mir eine gewisse Lockerheit. Wenn es eine Nummer 1 gibt, muss es auch die Nummer 2 geben. Und ich bin nun mal die Nummer 2. Jan Ullrich und ich, wir sind die Protagonisten des deutschen Radsports. Ich kann mich nicht beschweren.
Ihr Chef Walter Godefroot hat gesagt, wenn man älter wird, wird man realistischer; wie realistisch ist denn noch ein weiteres Grünes Trikot bei der diesjährigen Tour?
Das erste war ein Traum. Die folgenden waren sehr schwer zu holen, vor allem das sechste. Letztes Jahr hab ich es knapp verpasst. Die ganze Zeit hatte ich Angst, als Versager dazustehen. Aber das war gar nicht so. Das war wie eine Befreiung für mich.
Haben Sie alles erreicht?
Natürlich möchte sich jeder einmal das schönste Trikot der Welt überstreifen: das Regenbogentrikot des Weltmeisters.
Für dieses Leibchen quälen Sie sich noch?
Selbst wenn ich es nicht hole, könnte ich jeden Abend ruhig einschlafen. Der Radsport hat 15 Jahre meines Lebens dominiert, aber er ist nicht alles. Wenn Sie mich fragen, wie ich in Erinnerung bleiben will, dann sage ich Ihnen: Nichts ist älter als der Erfolg von gestern. Nur weil ich ein paar Rennen gewonnen habe … Das Leben geht für mich normal weiter.
Der Radsport als schnöder Beruf?
Nein, Radsport ist meine Passion.