: Sie waren mal eine Mannschaft
von THILO KNOTT
Carmen Bahlo kämpft, obwohl es um nichts mehr geht. „Wir im Osten“, poltert die Betriebsrätin bei ZF Brandenburg, „wir waren doch die Opferlämmer für die Machtspiele in der Zentrale“. Die da oben, die Führung der IG Metall, die hätten die da unten, die Basis, „bluten lassen für ihre Machtspiele“. Und die Arbeiter, „wir im Osten“, sind doch „vom eigenen Lager verraten worden“.
Die Betriebsrätin ist seit 13 Jahren, seit der Wende also, dabei bei der IG Metall im Osten. „Man muss sich ja irgendwie selbst aufbauen“, sagt sie. Sonst macht das keiner beim Getriebehersteller mit 1.000 Beschäftigten. Weil alle selbst noch mit den turbulenten Streikwochen beschäftigt sind. Mit den gegenseitigen Anfeindungen von Streikenden und Streikbrechern. Mit den einstweiligen Verfügungen der Arbeitgeber. Mit dem Druck der Vorgesetzten, die die Streikenden mit Briefen und Telefonanrufen bis in die eigenen vier Wände verfolgten. Mit dem Streikende zwei Tage vor der letzten Verhandlungsrunde. Und mit dem Abbruch aller Verhandlungen – ohne Ergebnis. „Wir waren mal eine Mannschaft“, sagt Bahlo. Doch jetzt berichtet die Betriebsrätin von Vorgesetzten, die „die Streikenden mobben“, von zwei Arbeiterlagern, die „erst wieder aufeinander zugehen“ müssten. Okay, es habe „keine tätlichen Auseinandersetzungen“ gegeben. Aber ist das ein Trost? Nein. „Der Betriebsfrieden ist dahin.“
Nicht nur bei ZF Brandenburg. Durch die gesamte IG Metall zieht sich die Zerrissenheit seit der Streikniederlage, der größten der Nachkriegszeit. Von „Scherbenhaufen“ sprechen viele Metall-Funktionäre und von einer Gewerkschaft, die „in ihrer Gesamterscheinung angezählt“ ist. Überall brechen die Konflikte auf: West gegen Ost, Betriebsräte vor Ort gegen die Führungsriege in Frankfurt. Führung (Vorsitzender Klaus Zwickel) gegen Führung (2. Vorsitzender und auserkorener Nachfolger Jürgen Peters). Oder die Metall-Funktionäre giften sich gleich im eigenen Betrieb an. Wie bei Opel in Bochum. Dort distanzierten sich die Vertrauensleute in einem der taz vorliegenden Brief an den Vorstand der IG Metall von ihrem Betriebsratschef Klaus Franz, der den Abbruch des Streiks und Rücktritt von Jürgen Peters gefordert hatte. Weder vom Betriebsrat noch den Vertrauensleuten der Gewerkschaft habe Franz „eine Legitimation oder einen Beschluss“ für sein öffentliches Auftreten bekommen. Ebenso „gewerkschaftsschädlich“ seien die Äußerungen des IGM-Bevollmächtigten Ludger Hinse über Peters – und dann noch „aus Spanien“, wie es in dem Brief süffisant heißt.
Der Hauptkonflikt aber ist eine neuerliche Debatte um den zukünftigen Vorsitzenden der IG Metall. Auch bei der Vorstandssitzung am Dienstag in Frankfurt, auf der eigentlich die Gründe für die Niederlage im Osten analysiert werden sollten. „Ich hoffe, dass es keine Zerreißprobe geben wird“, sagt der Hannoveraner Bezirksleiter und Peters-Freund Hartmut Meine. Doch die ist längst im Gange.
„Die alten Gräben“, sagt Frank Stroh, Sprecher des baden-württembergischen IG-Metall-Bezirksleiters Berthold Huber, „sind wieder aufgebrochen.“ Jene Gräben zwischen den Traditionalisten und Reformern der Gewerkschaft also, die bei der Vorstandssitzung am 8. April eigentlich überwunden werden sollten. Mit Peters an der Spitze und eben Huber als zweitem Vorsitzenden sollten die Lager bei der Wahl durch die Delegiertenversammlung Anfang Oktober wieder integriert werden. Doch schon damals bei der Kandidatenkür in Dresden sei das eine Entscheidung gewesen, die „nur der Harmonie dienen sollte“, wie ein Funktionär sagt. Der geschäftsführende Vorstand favorisierte den Reformer Huber, im erweiterten Vorstand gab es ein 20:20-Patt, ehe sich der noch amtierende Metall-Chef Klaus Zwickel für die Tandemlösung entschied. Wider Willen.
Doch ob die Tandemlösung jemals zustande kommen wird, ist fraglich. Peters, der im IG-Metall-Vorstand für Tarifpolitik und also auch für die fehlgeschlagene Strategie zur Einführung der 35-Stunden-Woche im Osten zuständig ist, redet sich seit Tagen um Kopf und Kragen. Immer wieder betont er, trotz der Niederlage für den Chefsessel antreten zu wollen. Doch für die Niederlage werden er und der Bezirksleiter Hasso Düvel verantwortlich gemacht. Von Zwickel selbst, der Peters in der letzten Vorstandssitzung als „Autisten wie Honecker“ bezeichnet haben soll und später zum Rücktritt aufgefordert hat. Von den starken Bezirken in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, die sich auch schon vor der Nominierung gegen Peters und für Huber aussprachen. Und von einer Riege von Betriebsräten, vor allem der gewichtigen Automobilindustrie. „Ich hätte Größe gezeigt und Konsequenzen im Interesse der Organisation gezogen“, sagte Uwe Hück der taz. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende bei Porsche befürchtet, dass „uns niemand mehr ernst nehmen“ werde, sollte Peters Vorsitzender werden. Daher sei es auch nicht damit getan, wenn nur Bezirksleiter Düvel den Hut nehmen würde. Hück: „Der Busfahrer macht den Fehler und wirft den Automechaniker raus, oder wie?“
Hartmut Meine vom Peters-Bezirk Hannover wiederum verteidigt Peters: Der Gesamtvorstand trage die Verantwortung für die Niederlage im Osten – nicht einzelne Leute. „Es ist doch allzu simpel, zu sagen, jetzt müssen zwei Köpfe rollen – und dann wird alles gut.“ Die Lager, so ein Funktionär, „sortieren sich“ vor der Vorstandssitzung am Dienstag. Mit einer „beinharten Diskussion“, die es „so noch nie gegeben“ habe.
Das Personalgezerre im Anschluss an das Streikdebakel in der IG Metall ergänzt dabei lediglich das desolate Bild, das die Gewerkschaften momentan abgegeben. Nur noch 28 Prozent der Deutschen befürworten laut einer Umfrage „mehr Einfluss der Gewerkschaften auf die Politik“. Vor vier Jahren waren es noch gut 50 Prozent. Der politische Bedeutungsverlust ist für den Berliner Gewerkschaftsforscher Hans-Peter Müller eine „Machtnormalisierung“. Die Gewerkschaften haben sich „die Rolle von Ersatzparlamenten angemaßt“. Beim Streik beispielsweise, sagt Müller, hätten sich die Vorstände „wechselseitig besoffen gemacht“.
Die „Selbstüberschätzung“ (Müller) hat mit der Frage zu tun: Wen vertreten die Gewerkschaften eigentlich? Bei der IG Metall ist die Diskrepanz deutlich zu sehen: Von den knapp 2.800.000 Mitgliedern ist die Hälfte erwerbslos, im Vorruhestand, in Rente oder ohne betriebliche Betreuung. Die IG Metall repräsentiere nur noch die Stammbelegschaft mit relativ sicheren Arbeitsplätzen – „da soll in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit niemand mehr von Gemeinwohlorientierung reden“, sagt Gewerkschaftsforscher Müller.
Hinzu kommt ein Schlingerkurs in der politischen Ausrichtung – bedingt durch den Streit zwischen Traditionalisten und Reformierern auch innerhalb des DGB. Beispiel Agenda 2010. Da haben die Gewerkschafter, allen voran Peters, ganz selbstbewusst Gespräche mit Bundeskanzler Gerhard Schröder abgesagt, um zwei Wochen später wieder im Kanzleramt angekrochen zu kommen. Wen wundert’s, dass den Streikaufrufen gegen die Agenda 2010 dann nur mickrige 90.000 Metaller auf die Straße folgten. Der vollmundig angekündigte „heiße Mai“ war ein laues Lüftchen. Und wenn beispielsweise Schröder versichert, er werde nicht am Heiligtum Flächentarifvertrag rütteln – dann aber, bitte schön, nur mit freiwilligen Öffnungsklauseln. „Wenn die Gewerkschaft der SPD beim Machterhalt hilft, ist es gut“, konstatiert Müller die Rollenverteilung, „wenn nicht, ist es auch egal.“
Eine Entwicklung nicht nur in Deutschland. „Die enge Verbindung zwischen sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften ist in ganz Europa deutlich zurückgegangen“, sagt der Freiburger Parteienforscher Ulrich Eith. Und wenn, wie im Falle Schröders, Sozialreformen „nur unter fiskalischen Gesichtspunkten“ betrachtet würden, dann müsse die SPD die Gewerkschaften „nicht unbegingt anhören“.
Die Gewerkschaft – ein Papiertiger? Sie seien zumindest noch ein „politischer Faktor“, gesteht Eith ihnen zu, deshalb werde sich „der Kanzler auch mit ihnen unterhalten müssen“. Zumal die schlechten Umfragewerte für die SPD darauf zurückzuführen seien, dass sie bei den Arbeitern und unteren Segmenten der Mittelschicht „in hohem Maße an Vertrauen verloren“ hat. Jene Klientel, die wiederum von den Gewerkschaften mobilisiert werden könnte. Aber wie sich diesem Problem stellen, wenn Klaus Zwickel die Führung der IG Metall als „handlungsunfähig“ betrachtet?
Die IG Metall muss am Dienstag erst einmal die Vorstandssitzung über die Bühne bringen. „Ich erwarte eine Personalentscheidung“, sagt Uwe Hück von Porsche. Aber wie soll die ausfallen? Und wer soll die herbeiführen? Huber hat sich einen Kommentar sowohl zur Streikstrategie als auch zur Personalie Peters verständlicherweise verkniffen. Er lag die ganzen Tage mit einer Nierenentzündung im Bett. Und Huber, sagen Leute, die ihn gut kennen, werde sich „loyal zur Organisation“ verhalten – und nicht in eine Kampfkandidatur gegen Peters ziehen.
Der IG-Metall-Bezirk Küste hat derweil angedeutet, einen Antrag auf ein neues Findungsverfahren stellen zu wollen. Doch auch diesem kann sich Peters entziehen – und im Oktober trotzdem antreten. Es liegt also an Peters selbst. Sollte er dem Druck standhalten, hätte er bis zum Oktober Zeit, seine „Bataillone“, von denen oft die Rede ist, um sich zu scharen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass aus dem Vorstand ein dritter Kandidat von außen ins Spiel gebracht wurde: Harald Schartau. Doch der nordrhein-westfälische Wirtschafts- und Arbeitsminister lehnte prompt dankend ab.
Betriebsrätin Carmen Bahlo hat andere Sorgen. Seit Donnerstag werden erste Gespräche mit den Arbeitgebern über einen Haustarifvertrag bei ZF Brandenburg geführt. Die ganze Posse im eigenen Lager wird ihr dabei wenig hilfreich sein. Diesmal. „Es gibt immer eine Revanche!“ Aber das sagt die Betriebsrätin eher aus Trotz. Sie muss sich ja selbst aufbauen.