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Archiv-Artikel

Nicht schwach, nur nachlässig

Nach dem Prolog beginnt die Kaffeesatzleserei über die Form von Lance Armstrong. Der ärgert sich weniger über seine sieben Sekunden Rückstand als über die Tatsache, die Strecke nicht studiert zu haben. Von Jan Ullrich kann man das nicht behaupten

aus Paris SEBASTIAN MOLL

Rudy Pevenage ist nun schon vierzehn Jahre lang Sportlicher Leiter im Profiradsport und eigentlich nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Doch als Jan Ullrich am Ende des Prologs die Ziellinie überquert und sich, von der Anstrengung noch keuchend, im schwarzen Mannschaftsbus mit dem grünen Bianchi-Schriftzug verkrochen hatte, da konnte der Belgier seine Aufregung kaum mehr verbergen. Weit steckte er den Kopf durch das Seitenfenster des Teamfahrzeugs, unter dessen Armaturenbrett auf einem kleinen Fernsehmonitor das Rennen zu sehen war. Als dort ein Favorit nach dem anderen mit einer langsameren Zeit als Ullrich ins Ziel kam, konnte Pevenage nur noch mühsam das laute Jubeln unterdrücken: Erst war Santiago Botero der neue Telekom-Spitzenmann, sieben Sekunden langsamer; dann um dieselbe Zeit Joseba Beloki, der schon zweimal Dritter und einmal Zweiter geworden war bei der Tour. Schließlich und zu guter Letzt auch noch der Champion, Lance Armstrong. Ihm hatte Ullrich fünf Sekunden aufgebrummt.

Nun war der Prolog bloß sechseinhalb Kilometer lang und ging um ein Paar Häuserecken im 13. Arrondissement von Paris. Die Tour hingegen geht um ganz Frankreich und zählt 3.427 Kilometer. Und doch freute man sich im Lager Ullrich, gerade so, als sei der vierte Platz hinter den Prolog-Spezialisten Brad McGee, David Millar und Haimar Zubeldia bereits das vollendete Comeback nach Ullrichs Jahr der inneren und äußeren Neuorientierung. „Ich bin dabei“, konstatierte Ullrich zufrieden und glaubte, seit der Tour de Suisse im Juni noch einmal einen merklichen Leistungssprung gemacht zu haben. Rudy Pevenage glaubte gar, das Prolog-Ergebnis sei ein „guter Hinweis“ auch auf die Kräfteverhältnisse bei den bevorstehenden rund 100 Stunden Fahrzeit in den nächsten drei Wochen.

Sicher, Armstrong schnitt bei keinem seiner Tour-Siege im Prolog so schlecht ab wie in diesem Jahr. Wenn er am Ende gewann, war er davor auch im Prolog stark: 1999 und 2002 siegte der Amerikaner, 2000 war er Zweiter bei der Etappe vor der ersten Etappe, 2001 Dritter. Trotzdem ließ sich Armstrong von seinem siebten Platz und den sieben Sekunden Rückstand auf Sieger McGee nicht verunsichern: „Es liegt noch viel Straße vor uns“, sagte er weise im Ziel und prophezeite, dass sich das Rennen spätestens Mitte der Woche ganz anders darstellen werde, als es das jetzt tue. Am Mittwoch findet das Mannschaftszeitfahren statt – und für diese Disziplin ließ das Ergebnis des Kurzzeitfahrens in Paris Armstrong stark hoffen: Seine Mannschaftskameraden platzierten sich im Prolog nämlich allesamt exzellent: Victor Hugo Pena wurde Fünfter, Vjatcheslav Ekimov 10, George Hincapie 13. „Wir wollten als Mannschaft möglichst stark abschneiden“, kommentierte Armstrong dieses Ergebnis, „weil die beste Mannschaft beim Mannschaftszeitfahren als letzte starten darf.“

Lief bei US Postal also doch alles nach Plan? Nicht ganz. Ein wenig Enttäuschung mochte Armstrong nicht verhehlen: „Das lief nicht so gut, wie ich das erwartet habe.“ Der schwere Kurs mit mehreren Kopfsteinpflasterabschnitten habe ihn aus dem Rhythmus und aus dem Konzept gebracht – und darüber, so Armstrong, ärgere er sich am meisten. Er hätte die Strecke studieren sollen, fluchte der Perfektionist über seine Nachlässigkeit, habe sich aber dagegen entschieden. So scheint es, als sei der eigentliche Hoffnungsschimmer der Konkurrenz nicht, dass Armstrong schwach ist, sondern dass er fehleranfälliger geworden ist als in der Vergangenheit.

Am Ende warnte selbst Rudy Pevenage in all seiner Freude über den augenscheinlich wettbewerbsfähigen Ullrich davor, übertriebene Rückschlüsse aus dem Prolog zu ziehen: „Natürlich ist das nicht mit einem Alpenpass zu vergleichen.“ Jens Voigt, der mit 19 Sekunden Rückstand 40. wurde, war da noch deutlicher: „Der Prolog bedeutet gar nichts.“ Von der Psychologie einmal abgesehen: Das Ergebnis gebe ihm ungeheures Selbstvertrauen, hat Ullrich noch gesagt. Immerhin: Das darf man nicht unterschätzen.