: „In der Nacht hasst du jede Sekunde“
Der Kriegsalltag der Familie Naim im Gazastreifen, Teil 2: Am schlimmsten sind die Nächte, wenn die ganze Familie in den Keller zieht und in dieser von Israel für Angriffe bevorzugten Zeit nicht weiß, was oben los ist
Der erste Bericht von Korrespondent Karim El-Gawhary über das Telefonat mit der Familie Naim im nördlichen Gazastreifen erschien am 5. Januar in der taz. Damals erzählte der Vater Saed Naim, wie die siebenköpfige Familie mit ihrem Kofferradio im Keller ihres Hauses voller Angst den ersten Tag der israelischen Bodenoffensive verbrachte, um am nächsten Morgen in ein vermeintlich sichereres Haus eines Onkels zu ziehen. Noch während des Telefongesprächs schlugen in der Nähe erneut die Bomben ein. Jetzt hat unser Korrespondent die Familie nach vielen vergeblichen Versuchen erneut telefonisch erreicht.
KAIRO taz ■ Warum, verdammt noch mal, hat er vergangenes Jahr dieses Angebot nach Deutschland nicht angenommen? Das ist die Frage, die sich Saed Naim immer wieder stellt, in den langen Nächten, wenn er mit seiner Frau, dem zweijährigen Sohn Islam, der einjährigen Tochter Maha und der Familie seines Onkels im Keller des Haus im Gazastreifen sitzt und wartet, wann und wo die nächste Bombe einschlägt. Auch seine Eltern sind bei ihm. Sie sind der Grund, warum er das Angebot aus Deutschland abgelehnt hat. Er wollte die beiden Alten in ihrem Haus in Sudaniya im nördlichen Gazastreifen nicht alleinlassen. Das Haus, das sie vor einer Woche in Panik verlassen haben, sei inzwischen abgebrannt, heißt es. Sicher ist sich allerdings niemand.
Sicher ist nur: In einem anderen Haus in der Nachbarschaft, in dem früher der erweiterte Teil der Naim-Familie wohnte, hat sich inzwischen eine Spezialeinheit der israelischen Armee eingerichtet. Das sechsstöckige Gebäude liegt strategisch günstig und bietet einen guten Überblick. Die Gegend in Sudaniya ist inzwischen vollkommen verlassen. Dort operiert die israelische Armee und schießt auf alles, was sich bewegt.
Das musste auch Saeds Cousin Nahed Naim erfahren. Vorgestern war er losgezogen, um in seinem Haus nach dem Rechten zu sehen und ein paar Dinge zu holen. Nun liegt er mit mehreren Einschüssen im Bein und einer Kopfverletzung im Krankenhaus und kann sich an nichts erinnern. Die Sanitäter erzählen, dass Nahed der einzige Überlebende sei, ein halbes Dutzend seiner Freunde, die mit ihm unterwegs waren, seien tot. Nahed hatte es noch ein paar Schritte um die Ecke geschafft und konnte von den Sanitätern geborgen werden. Seine toten Freunde liegen immer noch auf der Straße in der Schusslinie der israelischen Armee.
Dass die Sanitäter so vorsichtig sind, hat einen guten Grund. Annas Naim, ein weiterer Cousin Saeds, war Sanitäter. Am zweiten Tag der Bodenoffensive kam der 20-Jährige nicht nach Hause. In der Nacht war sein Krankenwagen von einer israelischen Granate getroffen worden, als er unterwegs nach Beit Lahia im Norden des Gazastreifens war, um Verletzte abzuholen. Er kam nie an. Annas war sofort tot, ein Mitfahrer verlor sein Bein, auch der Fahrer wurde verletzt.
Annas wurde im deutschen Erlangen geboren. Seine Familie war vor ein paar Jahren in den Gazastreifen zurückgekehrt, wo sein Vater als Zahnarzt arbeitet. Zunächst wusste die Familie noch nicht einmal, wie sie Annas begraben sollte – ein logistisches Problem unter permanentem israelischem Beschuss. Schließlich wurde der Muslim Annas auf einem christlich-orthodoxen Friedhof beerdigt. Der liegt direkt neben dem Maamidani-Krankenhaus, wohin seine Leiche gebracht wurde.
Saed, der Sachbearbeiter im palästinensischen Gesundheitsministerium ist, verbringt seine Tage immer noch im Haus seines Onkel am Beach-Camp, wohin er mit seiner Familie nach dem ersten Tag der Bodenoffensive geflüchtet war. 14 Menschen teilen sich vier Zimmer. Abgesehen von den täglichen Bombardierungen liegt das Flüchtlingslager noch am Rande der Kampfzone.
Fast hat sich eine Art Routine im täglichen Wahnsinn eingeschlichen. Während der täglichen dreistündigen Feuerpause, die die israelische Armee den Bewohnern des Gazastreifens gewährt, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen, rennt Saed zum Markt um die Ecke. „Ein paar Läden haben immer auf, und irgendetwas findet man immer“, erzählt er. Die ersten Tage, als sie fast ohne Wasser und Essen im Keller saßen, sind vorbei.
Viel haben sie nicht, aber sie überleben. Strom gibt es inzwischen aus einen kleinen Generator. Den Fernseher schaltet die Familie trotzdem nicht ein, sie hören nur Radio. „Wir wollen nicht, dass die Kinder sehen, was um sie herum passiert“, meint Saed. Aber die älteren Kinder seines Onkels wüsstsen sehr wohl, was geschieht. Voller Angst lägen sie die ganze Nacht wach. Nur Gott wisse, wie ihre Seelen das überstehen, sagt Saed.
Um bei Verstand zu bleiben, versuchen die Erwachsenen, tagsüber irgendeine Beschäftigung zu finden. Manchmal, wenn es ruhig ist, geht Saed eine halbe Stunde vors Haus und wandert auf der Straße auf und ab. Das Schlimmste ist, wenn es dunkel wird und die ganze Familie in den Keller zieht – die bevorzugte Zeit für israelische Angriffe. „Nachts hasst du jede Sekunde, wenn du im Keller sitzt, die Einschläge hörst und keine Ahnung hast, was oben los ist“, beschreibt Saed diese langen ängstlichen Stunden. „Jede Nacht kann eine Bombe auf unser Haus fallen und meine gesamte Familie auslöschen.“
PROTOKOLL: KARIM EL-GAWHARY