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Archiv-Artikel

Die Burg der guten Lieder

Heute vor 40 Jahren, Pfingsten 1964, fand auf Burg Waldeck im Hunsrück das erste deutsche Open-Air-Festival statt. Unter dem Titel „Chanson Folklore International“ war dies der Beginn einer neuen linken Liedkultur in Deutschland. Stars wie Reinhard Mey, Franz Josef Degenhardt oder Katja Ebstein gingen aus dieser Szene hervor

VON CHRISTIAN RATH

Tief im Hunsrück bei Kastellaun und Dorweiler liegt Burg Waldeck. Ein Name, der Klang hat – denn er bezeichnet den legendären Ort gleich zweier deutscher Jugendbewegungen. Hier wollten in den Zwanzigerjahren die Wandervögel ihre deutsche Jugendburg bauen. Und in den Sechzigerjahren war Burg Waldeck Ausgangspunkt der deutschen Folk-und Liederszene.

Nichts zur Sache tut jedenfalls die Burg selbst. Im Mittelalter erbaut, 1669 von den Franzosen zerstört, war sie nur eine Ruine, ehe ab 1920 der Nerother Wandervogel beschließt, dort eine Jugendburg als „geistigen Sammelplatz“ zu bauen.

Bei den Wandervögeln wurde viel musiziert und gesungen. Man wollte weg aus der Stadt, in die Natur, dort Zivilisationskritik üben, Neues erleben und nichts mit spießigem Erwachsenenleben zu tun haben – vielleicht ein romantischer Vorläufer der uns bekannten Alternativszene. Der Nerother Wandervogel verstand sich als die Elite dieser Bewegung – die die größten Abenteuer versprach, etwa spektakuläre Fahrten nach Lappland und Griechenland, nach Ägypten und Indien. Finanziert wurden die Unternehmungen durch Diavorträge mit Reisemotiven, indem man unterwegs sang, Theater spielte oder Kulturfilme für die Filmgesellschaft Ufa drehte. Gab es Überschüsse, wurde Baumaterial für die Jugendburg gekauft; das Projekt kam jedoch nicht voran.

Aus heutiger Sicht waren die abenteuerlustigen Nerother eher unsympathisch. Der 1919 vom Kriegsheimkehrer Robert Oelbermann gegründete Bund war auf ihn selbst als Führer zugeschnitten, seine „Ritter“ hatten ihm Treue zu geloben, Mädchen waren nicht zugelassen, die Demokratie wurde als „Massenherrschaft“ verachtet.

Kein Wunder, dass die meisten Nerother die Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst freudig begrüßten. Bald jedoch begriffen sie, dass die Hitlerjugend die freien Jugendbünde als Konkurrenz ansah. Im Juni 1933 fand mit knapp 1.500 Teilnehmern das letzte Bundestreffen statt, dann lösten sich die Nerother auf, um weitere Schikanen gegen die meist minderjährigen Mitglieder zu vermeiden.

Anfang 1936 spitzte sich die Lage zu. Im Rahmen der Aktion „Vernichtung der bündischen Reste“ wurden rund hundert frühere Nerother verhaftet, unter anderem auch Robert Oelbermann. Vorwurf: „Verleitung zur Unzucht“. Oelbermann verteidigte sich offensiv, „dass bei allen Führern gleichgeschlechtliche Neigungen in irgendeiner Form bestehen“. Nach Ende der Strafhaft kommt er ins KZ, zunächst nach Sachsenhausen, dann nach Dachau, wo er 1941 an vereiterten Wunden stirbt.

Nach Kriegsende übernimmt die Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW), in der sich alte Nerother zusammenfanden, das Burggelände. Nationalsozialismus und Krieg haben die gealterten Wandervögel verändert. Die Demokratie wird jetzt bejaht, Frauen sind gern gesehen, und die Ohne-mich-Bewegung gegen eine deutsche Wiederbewaffnung findet Widerhall. Zu Konflikten kommt es allerdings, als Robert Oelberfelds Zwillingsbruder Karl aus dem Exil in Afrika zurückkommt. Ihm passt die neue Richtung nicht, er reanimiert den Nerother Wandervogel und versucht, die ABW vom Gelände zu verdrängen. Der folgende Rechtsstreit endet erst 1977 mit einem Sieg der ABW.

In der Zwischenzeit rückt die Waldeck erst richtig ins Rampenlicht. Denn 1963 haben studentische ABW-Aktivisten eine Idee: Mit einem Liedertreffen wollen sie an die weltweit entstehenden neuen Jugendkulturen anknüpfen. „Das hat uns natürlich gereizt, wenn man in der Zeitung las, auf dem Campus von Berkeley genügt der Besitz einer Gitarre, um verhaftet zu werden“, erinnert sich Diethart Kerbs. Er und seine Mitstreiter wollten ein „neues deutsches Lied“ schaffen, auch um bei Treffen mit ausländischen Freunden etwas vorweisen zu können, „das was zu sagen hat und nicht verbraucht und abgestanden schmeckt“, so Rolf Gekeler.

Zum ersten Festival, eigentlich mehr als Seminar geplant, kommen bereits vierhundert Besucher. Gegen Kost und Logis nehmen – damals noch unbekannte – Künstler wie Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp und Reinhardt Mey teil. Zur Begrüßung ruft ihnen Diethart Kerbs ein aufmunterndes „Étonnez nous!“ („Nun überrascht uns mal“) zu. Die größte Überraschung ist Degenhardt, der die Idee vom „deutschen Chanson“ wohl am ehesten trifft. Von ihm stammen auch die später viel zitierten Zeilen: „Wo sind sie geblieben, unsere alten Lieder? Lehrer haben sie zerbissen, Kurzbehoste sie verklampft, braune Horden totgeschrien, Stiefel in den Dreck gestampft.“

Alte Waldecker wie Oss Kröher, Jürgen Rohland und Hai Frankl (mit seiner schwedischen Frau Topsy) zeigen, dass auch die einst kurzbehosten Gastgeber etwas zum neuen Lied beizutragen haben. Jürgen Rohland, der zwei Jahre später im Alter von 33 Jahren an einer Gehirnblutung starb, war mit seinen jiddischen Liedern dem Zeitgeist sogar mehr als ein Jahrzehnt voraus.

Von Beginn an ist das Festival ein Medienereignis. Schon im ersten Jahr waren Radiosender vertreten, 1965 auch drei Fernseh-Ü-Wagen von ZDF, WDR und SWF – was das Publikumsinteresse natürlich noch steigerte. Mehr als fünftausend Zuschauer waren aber nie bei den Festivals auf der abgelegenen Hunsrückwiese. Deshalb ist die gelegentliche Rede vom „deutschen Woodstock“ doch etwas übertrieben.

Die Festivals 1965 und 1966 bringen neue Entdeckungen, etwa Walter Mossmann und Hannes Wader – Sänger, die später für die linke Liedkultur in Deutschland Bedeutung haben sollten.

Danach wurde es auf der Waldeck ungemütlicher. 1967, das Festival stand unter dem Motto „Das engagierte Lied“, gibt es Sabotage an Rundfunk- und Stromkabeln, Autoreifen werden zerstochen, Trinkwassertanks geleert, Festivalorganisator Jürgen Vahle wird das Nasenbein zertrümmert. Zugeschrieben werden die Gewalttätigkeiten Leuten aus dem renitenter werdenden „Nerother Wandervogel“, der unterhalb des Festivalgeländes sein Domizil hat.

Ein Jahr später, 1968, wird das Festival nun von links aufs Korn genommen. Allerlei marxistische Gruppen sind zur Waldeck gekommen, hissen rote Fahnen und kritisieren Künstler wie den Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch. „Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert“, postuliert Eckart Holler (der später in Tübingen selbst ein Festival leiten wird). Mossmann halbiert sein Programm und spricht anschließend mit dem Publikum. Viele andere Sänger (wie Mey und Wader) weigern sich jedoch, unter diesen Bedingungen auf die Bühne zu gehen.

Das letzte Waldeck-Festival fand 1969 statt. Es war nicht mehr von der ABW organisiert, sondern von einem externen Vorbereitungskreis, dem unter anderem der Subkulturforscher Rolf Schwendter und der heutige Spiegel-Journalist Henryk M. Broder angehörten. Schon immer gab es auf Waldeck Arbeitsgruppen, die den Stand des „neuen Lieds“ reflektierten. Doch diesmal steht auf dem Programm fast doppelt so viel Theorie wie Musik. Wader und Mey singen nur kurz, Degenhardt tritt gar nicht auf. Günter Wallraff berichtet aus der Arbeiterwelt, K-Gruppen beschimpfen sich gegenseitig, und musikalisch gibt es ganz neue Töne: Krautrock von Guru Guru und Tangerine Dream.

Plötzlich aber braucht man die Waldecktreffen nicht mehr. Kleinkunstbühnen und Open-Air-Festivals gibt es bald fast überall, und die Waldeckkünstler haben ihre Nischen gefunden, oft jenseits der studentoiden Szene. In diesen popkulturell irrelevanten Biotopen überwintern sie seit 35 Jahren die wechselnden Moden, vom Deutschfolk der Siebzigerjahre über die Neue Deutsche Welle der Achtziger und den deutschen HipHop des letzten Jahrzehnts. Nur ein Generationswechsel wie in Frankreich, wo das Chanson lebt wie eh und je, steht noch aus. Immer noch personifiziert die Generation Waldeck die deutschen Liedermacher.

Und wie ging es auf der Waldeck selbst weiter? Die Nerother rückten weiter nach rechts und machten noch einige Jahre lang Ärger. Heute sind sie aber – nach mehreren Abspaltungen – ziemlich bedeutungslos. Parallel dazu entwickelte sich das ABW-Gelände auf der Burg Waldeck in den Siebzigerjahren zu einem der ersten selbst verwalteten Tagungszentren und ist bis heute ein Freiraum für Sänger, Musiker und Jugendgruppen.

Christian Rath, 39, rechtspolitischer Korrespondent der taz, schreibt gelegentlich über Folkmusik. Ab 1979 verbrachte er acht Jahre lang jeweils die Osterwoche mit linksalternativen Pfadfindern auf Burg Waldeck. Er dankt Hotte Schneider für Vorabauszüge aus seinem Buchmanuskript