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Archiv-Artikel

Es rettet euch kein höhres Wesen

Linke Revue: „Brüder zur Sonne zur Freiheit – ein Arbeiterliederabend ohne Verdi“ von Franz Wittenbrink und Frank Castorf im Schauspiel Hannover

Der Arbeiter wird immer öfter zum musealen Ausstellungsstück auf der Theaterbühne. In Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Text „Das Werk“ zum Beispiel steht plötzlich ein ganzer Arbeiterchor wie aus den Tiefen einer Mine hochgespült in gläsernen Vitrinen und singt. Das war ein Bild, das gleich zweifach vom Akt der Verdrängung erzählte: zum einen von dem Vergessen der Zwangsarbeiter, zum andern von den großen Verschiebungen der Arbeitsmärkte heute, die ganze Regionen ohne das zurücklassen, worauf doch ihr Selbstverständnis baut. Mit einem ähnlichen Bild, jedoch umgekehrt angelegt, arbeitete der junge Regisseur Stefan Kaegi in seinem Stück „Toreiro Porteiro“: Da saß das Publikum im Glaskasten eines Schaufensters des SPD-Gebäudes in Berlin und schaute auf drei Männer, die Theater nur spielten, weil sie in ihrer argentinischen Heimatstadt keine andere Arbeit mehr gefunden hatten.

In diesem Kontext versprach der neue Liederabend von Franz Wittenbrink „Brüder zur Sonne zur Freiheit – ein Arbeiterliederabend ohne Verdi“ einiges. Zumal Co-Regisseur Frank Castorf verantwortlich zeichnete, der den Liederabend in seiner Eigenschaft als Intendant der Ruhrfestspiele mit initiiert hatte. Die erste Premiere war in Recklinghausen, die zweite kurz darauf im Schauspiel Hannover. Aber über den deutlich erkennbaren Wunsch, den Erben der Arbeiterbewegung und den Verwaltern der Widerstandsgeschichte ein Geschenk zu machen, kam die Sache nicht hinaus.

48 Musiknummern in knapp zwei Stunden: „Brüder zur Sonne zur Freiheit …“ hat Tempo, Witz, ist immer unterhaltend, manchmal berührend und nach den Maßstäben einer Revue durchaus gelungen. Die Lieder stammen aus der Arbeiterbewegung, von Brecht und Eisler, aus Geschichten des Widerstands gegen Franco und Pinochet, von Eric Burdon, John Lennon und Ton Steine Scherben. Für das Bühnenbild hat Bert Neumann eine Betonmischmaschine, Bretter, Sand und Steine bereitgestellt, die im Rhythmus der Musik beschwingt bearbeitet werden. Doch nie weiß man genau: Bauen sie nun eine Barrikade oder doch bloß eine Laube, in die sich die letzten Träume von der Solidarität ins Kuschelige verkriechen? Es ist dieser zwiespältige Gestus, allein aus der Perspektive der Erinnerung zu erzählen, der unbefriedigend bleibt.

Der musikalische Parcours liefert eine schmerzfreie Besichtigungstour durch eine linke Geschichte, in der Kommunismus, Blues und Rock 'n’ Roll widerspruchsfrei eingemeindet und friedlich belächelt werden. Einmal angehimmelt werden wie ein Rockstar, das scheint der heftigste Trieb der acht mitwirkenden Schauspieler und Sänger, von denen jeder seinen großen Auftritt hat, hingegeben wie ein Karaoke-Team an die Posen ihrer Vorbilder und auch schon diese Lust parodierend. Das ist zuerst lustig und anrührend, dann ein bisschen peinlich und schließlich gruselig; wie sich theatralische Inbrunst zum Beispiel achtstimmig müht, in Liedern von Ton Steine Scherben den Rio Reiser in jedem einzelnen der Mitwirkenden freizulegen.

Was dem Abend fehlt, ist ein Ausbruch aus den Perspektiven des Nostalgischen. Herauszufinden, in welchen Tarnungen Führerkult und Heldenmythen heute auftreten, oder zu fragen, was an ihre Stelle getreten ist; zu suchen, was den Begriff von Freiheit noch jenseits seiner Übersetzung in Freizeit füllt; sich den Paradoxien zu stellen, die der Anspruch von Solidarität heute mit sich bringt – alles das hat der Abend ausgelassen.

KATRIN BETTINA MÜLLER