: Alles ist möglich. Sicher ist nichts
Keine Frage: Angela Merkel wird Kanzlerkandidatin der Union. Aber ist die CDU-Vorsitzende willens und stark genug, in zentralen Politikbereichen neue Wege zu gehen?
Nach der Wahl von Horst Köhler zum Bundespräsidenten ist niemand mehr zu sehen, der Angela Merkel auf dem Weg zur Macht noch aufhalten könnte. Es wird keine K-Frage mehr geben. Was aber wird Merkel mit der Macht machen? Wohin treibt sie erst die CDU und dann das Land?
I. Bei Spekulationen solcher Art ist man gut beraten, sich an das zu halten, worüber nicht spekuliert werden kann: Die CDU-Vorsitzende ist in der DDR aufgewachsen. Als junge Erwachsene hat sie den Niedergang und Zusammenbruch eines Systems erlebt. Ihr gesamtes politisches Tun, Reden und Verhalten lässt sich nur verstehen, wenn man sie nicht als die Vorsitzende einer alten westlichen, „rheinischen“ Partei begreift, sondern als Repräsentantin des neuen Europa und der neuen Demokratien jenseits der politisch-kulturellen Linie, die einmal Eiserner Vorhang genannt wurde.
Deshalb wirkt Merkel immer dann authentisch und glaubwürdig, wenn sie über Freiheit redet: Nirgendwo ist die so wertvoll wie in einem Gefängnis. So ist zu erklären, dass sie eigentlich einer „Marktwirtschaft ohne Attribute“ huldigt, aber gleichzeitig eine „neue soziale Marktwirtschaft“ erfindet, bei der das eine Attribut das andere relativiert. Ihre Berührungsängste mit allen S- Wörtern werden verständlich, hat sie doch das Soziale nur im Verbund mit einem Sozialismus erlebt, der die Wirtschaft lähmte und die Demokratie strangulierte. Und auch ihre außenpolitischen Akzente – Stichwort: Irak – werden plausibel: Schließlich hat Amerika dem neuen Europa die Freiheit gebracht.
Politische Biografien prägen auch dann, wenn sie aus der kritischen Distanz gelebt wurden. Es entwickelt sich als Kunst des Überlebens eine Fähigkeit, die demokratischen Politikern aus anderen Gründen recht rasch in Fleisch und Blut übergeht: die Kunst, viel zu reden und wenig zu sagen; seine Gedanken zu verschleiern und sich Hintertürchen offen zu halten; es allen recht zu machen, aber niemandem zu vertrauen; die Öffentlichkeit zu täuschen und dabei glaubwürdig zu wirken.
Könnte es sein, dass sich bei der CDU-Vorsitzenden ganz unterschiedliche Erfahrungen kreuzen und verstärken? In der DDR hat sie gelernt, vorsichtig zu sein. Von Helmut Kohl hat sie gelernt, alles dem Machterhalt unterzuordnen und nie zu vergessen, wie dünn das Eis ist, auf dem sie ihre Pirouetten dreht.
II. Die Virtuosin der Macht, die einen nach dem anderen aus dem Wege räumt, die es meisterhaft versteht, Politik ohne Inhalte zu betreiben, und die Überzeugungstäterin, die den Bruch mit dem Sozialstaatsmodell von Kohl und Blüm e tutti quanti betreibt: Es sind diese Widersprüche in der Person wie in der Politik, die alles möglich und nichts sicher machen. Da sind Merkels Rede zum 3. Oktober, die Reformbeschlüsse der CDU danach, die Wahl Köhlers zum Präsidenten: Das passt alles zusammen. Im Rückblick wird man die Präsidentenwahl 2004 einmal als politischen Richtungswechsel interpretieren, als den Aufbruch zur Reise in eine andere Republik.
Aber man kann sich auch an eine andere Geschichte erinnern: Die dreieinhalb Jahre, in denen Merkel zwar Parteivorsitzende war, aber nicht erkennbar wurde, wofür sie politisch stand. Konservative Blätter rätselten über Führungsschwäche und das inhaltliche Vakuum, das sie entfaltete: Ist Merkel am Ende gar eine Frau ohne politische Eigenschaften? So wäre es für sie nicht mehr lange gut gegangen.
Dann kam der Paukenschlag. Zur Verblüffung von Partei und Publikum setzte sie durch, was vorher viele nicht einmal zu denken gewagt hatten. Sie erschien mit einem Male als handlungsstarke Politikerin – und die CDU als eine Opposition, die sich auf die Regierung vorbereitet. Was ist passiert? Ein Paradigmenwechsel aus Überzeugung oder alles nur Nebelkerzen, um zu verbergen, dass die Winkelzüge und die Blockaden weitergehen? Reformen und Staatsräson dort, wo sie leicht zu haben sind, Parteiräson und Schnäppchenjagd dort, wo es um die Zukunft geht?
III. Es spricht vieles dafür, dass es Angela Merkel ernst ist mit der Neuorientierung der CDU und des Landes. Es ist durchaus möglich, dass sie eine große Kanzlerin wird, die rasch, kompakt und in einem sinnvollen Zusammenhang das Notwendige tut und dafür sogar Vertrauen findet. Aber es kann auch ganz anders kommen: Als Helmut Kohl im Jahr 1982 zu regieren begann, war die Rhetorik groß und waren die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ein paar Jahre lang komfortabel.
Was ausblieb, waren Reformen, und was kam, waren CDU-Niederlagen bei Landtagswahlen. Es sind die Spätfolgen der damaligen Nichtentscheidungen, die nun einen Richtungswechsel nötig machen, der heute die SPD und morgen möglicherweise die CDU aus der Kurve wirft. Danach gibt es dann keine neue Politik mehr und auch nicht mehr die Parteien, wie wir sie kennen.
So stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die wahlpolitischen Folgen einer vernünftigen Politik, die das Ganze und die Zukunft im Blick hat, überhaupt noch von einer der beiden (mehr oder weniger) großen Parteien allein getragen werden können; ob das deutsche politische System mit all seinen Vetospielern überhaupt eine vernünftige und mehrheitsfähige Politik zulässt, wenn es nichts mehr zu verteilen gibt. Hinter den Meinungsverschiedenheiten in der Union steht die Frage, wie man diesem Dilemma entkommen kann, welchen Sozialstaat wir wollen – und wie wir ihn bezahlen sollen.
Manche Länder (Skandinavien) wollen viel vom Staat, geben ihm aber auch viel (Steuern), anderswo (England, Amerika) ist es genau umgekehrt. Beides passt zusammen. Die Deutschen wollen alles: Sie erwarten viel vom Sozialstaat, wollen aber wenig Steuern bezahlen. Dieser Widerspruch geht auch mitten durch die Politik der Union und lässt die Frage offen, wohin die Reise denn nun geht.
Hinzu kommen die großen Unterlassungssünden, bei denen die Vorsitzende aktiv mit dabei ist. Wer das Jahrhundertthema Zuwanderung auf die Frage verkürzt, wie man die Bösewichter draußen halten kann, befördert eine „provinzielle Angstrepublik“ (Oberndörfer), die sicher in ihren Niedergang treiben wird. Wer in die traditionelle Familienpolitik, die schon fünfzig Jahre lang mit viel Geld wenig erreicht hat, unverdrossen weitere Milliarden pumpen will, neues Geld in alte Schläuche, statt die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern und so Vätern und Müttern das Leben zu erleichtern, der hat die Zeichen der Zeit definitiv nicht verstanden.
Man wird sehen, ob die Vorsitzende der CDU willens und stark genug ist, ihre Partei und das Land aus diesen beiden deutschen Sonderwegen (Zuwanderung und Familie) herauszuführen. Es wäre dies freilich nichts weniger als die Auflösung des Grundwiderspruchs aller Konservativen zu allen Zeiten: zu glauben, man könnte die Kräfte der Wirtschaft entfesseln, das Land modernisieren und doch erreichen, dass die kleine, heile Welt noch eine kleine Weile hält.
WARNFRIED DETTLING