: Der Kreis der Überzeugungstäter
VON SABINE HERRE
Der Europasaal des Bundestags hat etwas von einer Arena. Rund, weit und hoch, mit viel Licht und einem grandiosen Blick auf die Spree und ihren dort langsam dahinziehenden Lastkähnen. Selbst Publikum ist in dieser Arena vorhanden: Diplomaten, Journalisten, Wissenschaftler füllen die Ränge bei den öffentlichen Sitzungen des Europaausschusses meist bis auf den letzten Platz. Ja, um die europapolitischen Kämpfe zu verfolgen, geben sie sich sogar mit Stehplätzen zufrieden.
Doch europapolitische Auseinandersetzungen finden in dieser Arena nur selten statt. Denn die Kämpfer aus Regierung und Opposition sind sich in den meisten Fragen einig. Wer sie nach den letzten großen europapolitischen Debatten befragt, muss lange auf Antworten warten. Selbst als man über ein so wichtiges Thema wie die Begrenzung der Freizügigkeit von osteuropäischen Arbeitnehmern entscheiden musste, herrschte eine Atmosphäre wie in einem wissenschaftlichen Seminar über Migrationsströme. Und nur wenn ein CSU-Abgeordneter das Wort ergreift und einmal mehr darin erinnert, dass die kommunale Wasserversorgung durch die neue EU-Verfassung auf keinen Fall gefährdet werden darf, kommt in der Arena etwas Stimmung auf. Ansonsten aber ist bis zum Publikum hinauf zu hören, wenn ein Abgeordneter sein Butterbrot auspackt. Doch kann sich die deutsche Europapolitik dies leisten? Zumal inzwischen nach Untersuchungen von Wissenschaftlern bis zu 90 Prozent der deutschen Gesetzgebung von Vorgaben aus Brüssel bestimmt werden. Und in diesen Monaten zwei der wichtigsten Entscheidungen in der Geschichte der EU, über Erweiterung und Verfassung, fallen. Warum also diese „gepflegte Langeweile“, wie es selbst CDU-Europaexperte Peter Altmaier formuliert.
Die meisten der führenden Europapolitiker des Bundestags sind Überzeugungstäter. Sie wollen eine EU, die die Bereiche ihrer politischen Zusammenarbeit immer mehr integriert und erweitert. Sie sind für eine starke Kommission und dafür, dass im Ministerrat immer mehr Entscheidungen nicht einstimmig, sondern mit Mehrheit gefällt werden. Sie stehen in der Tradition deutscher Europapolitik, die lange vor Kohl begann, aber mit seinem – später wieder zurückgenommenen – Bekenntnis zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ ihren Höhepunkt erreichte. Eine Europapolitik, die sich weder durch die politische Zeitenwende von 1989 noch durch die Regierungsübernahme von Rot-Grün 1998 änderte. Europapolitische Debatten im Bundestag haben so stets etwas von einem Gottesdienst: Sie sind bestimmt von Glaubensbekenntnissen zur Europäischen Union. Anders als in Schweden oder Frankreich hatten in Deutschland EU-kritische oder gar EU-feindliche Parteien nie eine Chance.
Es gibt freilich noch weitere Gründe dafür, dass manche Abgeordnete im Europasaal sich nur allzu gern von den Lastkähnen auf der Spree ablenken lassen. Viele EU-Themen eignen sich einfach nicht für parteipolitische Auseinandersetzungen. Die jüngste EuGH-Entscheidung zur Anerkennung der Aufsichtssysteme für Lebensversicherungen, sie muss erst mal gelesen und dann auch noch verstanden werden. Zwar ist der Europaausschuss mit 47 Mitgliedern der größte des Bundestags. Doch er muss all das abarbeiten, was das Machtdreieck in Brüssel, was Rat, Kommission und weit über 600 Europaparlamentarier sich ausgedacht haben. Oft erfahren sie von neuen Richtlinien erst dann, wenn diese bereits beschlossen sind. Die Einflussmöglichkeiten und damit natürlich auch die demokratische Kontrolle sind gering.
Dass dieses Problem mit der Erweiterung der Zuständigkeiten der EU in Zukunft noch wachsen wird, ist allen klar. „Wir müssen endlich die europapolitische Arbeit der Parteien neu organisieren, ausweiten und so unseren Einfluss sichern, doch die Diskussion darüber steht erst am Anfang“, sagt etwa der Grüne Rainder Steenblock.
Die Debatte ist tatsächlich überfällig. Denn jetzt schon ist klar: Wenn mit Verabschiedung der Verfassung das Europaparlament über fast ebenso viel Entscheidungskompetenz wie der Ministerrat verfügen wird, wächst damit die Bedeutung der Europapabgeordneten in Brüssel, der Einfluss des Bundestags aber geht noch weiter zurück. Die deutschen Europaausschussmitglieder werden so zum Opfer ihrer eigenen Politik. Da sie für eine Stärkung des EP eintreten, machen sie sich letztendlich selbst überflüssig.
Und dann ist da noch ein ganz anderes wesentliches Problem der Europapolitiker. Ihr Thema ist unpopulär. Und wird immer unpopulärer. Während nach dem Ende des 2.Weltkriegs die Zustimmung der Deutschen zur europäischen Einigung geradezu eine Kompensation für den Verlust nationaler Identität war, hat sich der Anteil der uneingeschränkten Befürworter der deutschen EU-Mitgliedschaft seit der Wiedervereinigung fast halbiert. Während sich noch 1990 heute fast schon unglaubliche 82 Prozent der (West-)Deutschen für die Einigung Europas aussprachen, pendelt dieser Wert nun zwischen 40 und 60 Prozent.
Für Michael Roth von der SPD ist angesichts dieser Zahlen klar, dass es nicht gelungen ist, den Bürgern ein „positives Europaprojekt“ zu vermitteln. Die EU werde nur noch als gemeinsamer Markt, aber nicht mehr als Wertegemeinschaft wahrgenommen. Tatsächlich steht die angeblich allgegenwärtige Brüsseler Bürokratie immer im Mittelpunkt der EU-Kritik. Hinweise darauf, dass manche deutsche Großstadtverwaltung mehr Beamte beschäftigt als die Kommission, verhallen ungehört. EU-Themen, die von mehr als nur einigen Politikern diskutiert werden, sind stets populistische Themen: EU-Abgeordnete als Spesenritter. Polen, die uns die Arbeit und die Autos wegnehmen. Spanier, die mit unserem Geld Autobahnen bauen.
Europa wird zum Thema, wenn man damit den innenpolitischen Gegner vorführen kann. So weiß man natürlich auch bei der CDU/CSU, dass über eine Reform des Euro-Stabilitätspakts nachgedacht werden muss. Öffentlich zugeben würde die Union dies freilich nicht. Bei diesem populistischen Schlagabtausch stehen die Europapolitiker oft gegen die Mehrheit in ihrer Partei, versuchen an die grundlegenden Regeln und Werte der EU zu erinnern, und können sich doch nicht durchsetzen. Genauso wenig wie sie im Übrigen die immer wieder auftretenden europafeindlichen Ausfälle des Bundeskanzlers verhindern können.
Doch noch ist der Bundestag nicht verloren. Es gibt eine Zukunft für die deutsche europapolitische Debatte. Und damit ist nicht allein der Streit über die EU-Mitgliedschaft der Türkei gemeint. Was jetzt diskutiert werden muss, ist schon lange nicht mehr die Frage „ob“, sondern „wie viel“ und „welche“ Einigung Europa braucht. Nach der nahezu unumstrittenen Integration bei Binnenmarkt sowie Justiz- und Innenpolitik geht es nun um zwei sehr viel kontroversere Punkte: Außenpolitik und soziale Sicherheit. Wenn es der EU gelänge, eine europäische Antwort auf die Globalisierung zu geben und sich eine soziale Dimension zu schaffen, könnte damit auch wieder die Zustimmung zur EU wachsen, sagt etwa Michael Roth von der SPD. Denn damit hätte die wichtigste deutsche Debatte endlich auch die europäische Ebene erreicht. Für das Konventsmitglied Peter Altmaier ist die Zustimmung zum Aufbau einer europäischen Armee fast so etwas wie die Gretchenfrage der deutschen Europapolitik. Dabei könnten sich ganz neue politische Konstellationen ergeben: Nationale Rechte und pazifistische Linke gemeinsam gegen die EU-Politiker. Und gegen den weiteren Verzicht auf nationale Souveränität.
Wenn die Europapolitik nicht mehr als ferne Außen-, sondern als jeden direkt betreffende Innenpolitik wahrgenommen wird, wird das Interesse an den Debatten darüber wachsen. Nachdem in der Verfassung der Grundkonsens der deutschen Europapolitik verwirklicht wurde, werden sich in den Einzelfragen der Integration mehr Gegensätze zwischen den Parteien zeigen. Darin sind sich die Europapolitiker von CDU bis zu den Grünen, von Altmaier über Steenblock bis Roth einig. Schon wieder diese deutsche Einigkeit.