: Katholiken werden Protestanten
Weil das Land Zuschüsse für den Religionsunterricht kürzt, rufen beide Kirchen heute zum großen Protest. Schüler schätzen an den Stunden vor allem die Diskussionen – und dass es keine Noten gibt
von FLORIAN HÖHNE
Es klingt nach vielen Menschen, nach großem Protest und ebensolcher Wut: „Tag der Hunderttausend“, so haben die evangelische und katholische Kirche ihren heutigen Aktionstag genannt. Es geht um Religionsunterricht und Werteerziehung. Das Motto bezieht sich auf hunderttausend SchülerInnen, die in Berlin am Religionsunterricht teilnehmen. Die Kirchen befürchten, dass diese unter den Sparmaßnahmen des Landes leiden müssen und sehen Qualität und Umfang des Unterrichts gefährdet. Deshalb – und für die künftige Sicherung der Religionsstunden – machen sie heute in der ganzen Stadt mobil (siehe Kasten).
Sieben der besagten Hunderttausend besuchen die 11. Klasse der Georg-Christoph-Lichtenberg Oberschule in Lichtenberg, sie sitzen in Wolfgang Mochmanns Religionsstunde. Nur ein Schüler nennt sich selbst „religiös“ – er ist weder evangelisch noch katholisch, sondern orthodox. Thema der Stunde ist „Gedenken“, und bei Tee und Butterkeksen entflammt eine Diskussion über deutsches Holocaust-Gedenken, Nationalismus in den USA und Zivilreligion. Eben wegen solcher Diskussionen seien sie gekommen, sagen die Pennäler. „Hier können wir über Themen reden, die uns interessieren“, meint Charly. „Außerdem gehört es zur Allgemeinbildung, zum Beispiel die Bedeutung der christlichen Feiertage zu kennen.“ Ein anderer Schüler, Kai, nennt sich selbst „den Verräter hier“, weil er zusätzlich zum Religionsunterricht am Lebenskundeunterricht des Humanistischen Vereins Deutschland teilnimmt: „In beiden Fächern kommen endlich mal tagespolitische Sachen zur Sprache, über die ich diskutieren will.“
Szenenwechsel zur achten Klasse der Wald-Oberschule in Charlottenburg. Letzte Woche hätten sie zwei eingeladen, die sie für Satanisten hielten, erzählen die zwölf Schüler. „Die waren dann aber gar keine Satanisten, sondern Anarchisten – und ganz nett“, meint eine Schülerin. Toleranz will ihre Lehrerin, Jutta Loch, den Schülern durch solche Begegnungen vermitteln. Auf keinen Fall wolle sie mit Glaubenswahrheiten indoktrinieren: „Wofür ich als Religionslehrerin stehe, wissen die Kinder und können mich darauf ansprechen – aber ich missioniere nicht.“ In einer „anonymen Wirtschaft-Wirtschaft-Welt“ ginge es ihr eher um „die Dinge, die das Herz wärmen“. Den bibelschwingenden Missionar gibt es im Klassenzimmer kaum, stattdessen wirken die Religionslehrer wie Streetworker.
Kaum Leistungsdruck und viel Freiheit – das erwähnen die meisten Schüler, wenn es um Religion geht. Isabelle von der Papageno-Grundschule Mitte kommt zum Unterricht, weil „man da nicht gut sein muss. Da kann ich meine eigene Meinung haben.“ Isot ergänzt: „Nicht wie in Mathe.“ Anderen geht es mehr um einen interessanten Zeitvertreib: „Was soll ich denn zu Hause rumsitzen, wenn ich hier diskutieren kann?“, meint Nayra, die die 6. Klasse der Wald-Oberschule besucht.
Religionsunterricht ist im Land Berlin kein ordentliches Lehrfach. Das heißt, es gibt keine Noten, keine Klausuren und die Teilnahme ist freiwillig. Deshalb ist der Leistungsdruck so gering und deshalb zwingt der Rahmenplan die Lehrer nicht, ein bestimmtes Pensum zu schaffen.
Bezahlt werden die rund 1.000 PädagogInnen in Berlin von den Kirchen. Doch das Land Berlin übernimmt 90 Prozent der Personalkosten. Um diese zu berechnen, legt das Land einen Schlüssel zu Grunde: Bis 2003 rechnete die Wissenschaftsverwaltung pro bezahlter Unterrichtsstunde mit einer Klassengröße von 10 Schülern in weiterführenden Schulen, ab 2004 sind es nur noch 12 Schüler – ein beträchtlicher Teil des Unterrichts wird also nicht mehr bezuschusst.
Diese Maßnahme trifft nicht nur die Kirchen, sondern alle Anbieter von Weltanschauungsunterricht – also auch den Humanistischen Verein. Besagte Gruppenvergrößerung bedeutet bei gleichen Schülerzahlen für die evangelische Kirche ein deutliches Minus: 27,5 Millionen Euro im Jahre 2005 anstelle von 31,8 für das Jahr 2003. Für die katholische sind es 6,9 Millionen 2005 statt 8,3 Millionen 2003.
„Die seit 2003 gekürzten Summen entsprechen rund 80 Religionslehrer“, schätzt Michael Juschka, der für die evangelische Kirche die Vorbereitung des Aktionstages geleitet hat: „Das betrifft 10.000 Schüler.“ Mit dem Aktionstag träten beide Kirchen gemeinsam für die zukünftige Sicherung des Unterrichts ein – also zum Beispiel dafür, eine Wahlpflicht zwischen Religion und Philosophie/Ethik einzurichten. Hauptargument der Kirchen ist, dass Religion zu einer „selbstbewussten Zivilgesellschaft“ gehöre. Kompetenz in religiösen Fragen sei Teil der Allgemeinbildung. Gerade in einer „religiös pluralen Stadt wie Berlin“ sei solch ein Wahlpflichtfach dringend nötig, argumentiert der evangelische Bischof Wolfgang Huber.
Die Positionen der Parteien im Abgeordnetenhaus dazu sind wenig überraschend: SPD und PDS betonen, dass es mit der rot-roten Koalition keine Wahlpflicht zwischen Religion und Ethik/Philosophie geben werde. Die Sparmaßnahmen seien schmerzhaft, aber man kürze auf hohem Niveau, sagt Felicitas Tesch, bildungspolitische Sprecherin der SPD. Auch die Grünen lehnen ein Wahlpflichtmodell ab und plädieren für ein religionsneutrales Fach, dem Brandenburgischen LER vergleichbar. CDU und FDP hingegen unterstützen die Anliegen der Kirche. So nannte Katrin Schulze-Berndt, die schulpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, die Sparmaßnahmen einen „Raubbau an der Werteerziehung“.
Zurück zu denen, die werteerzogen werden sollen: Der Religionskurs 6. Klasse an der Carl-Bolle-Grundschule in Tiergarten hat gerade die Weltreligionen durchgenommen. Das Ergebnis – eine kleine Ausstellung – soll am „Tag der Hunderttausend“ gezeigt werden. An der Bolle-Schule ist ein Großteil der Schüler muslimischen Glaubens. Weltreligionen sind ein Thema, das den Kindern vor der Haustür begegnet. Hat der Unterricht das Verhältnis zu den muslimischen Mitschülern verändert? Lange schweigen die Schülerinnen. Dann sagt Janina: „Ich verstehe die Feste besser. Und warum manche meiner Mitschülerinnen Kopftücher tragen.“