Fettauge, sei wachsam

Größer, dicker, weiter: Endlich setzt sich auch hierzulande der XXL-Trend durch

Dreimal in der Woche ins Fatness-Studio für das zielgerichtete Bodyshaping

Sie treiben ihren Körper bis zum Äußersten. Sie kämpfen, schwitzen und quälen sich, nur um so auszusehen wie ihre Stars, wie Michael Moore, Diego Maradona oder Tine Wittler. Für ihre Traumfigur gehen sie bis an die Grenzen von Hosenbünden und Hemdenknöpfen, manchmal sogar weit darüber hinaus. Dieses Modefrühjahr steht ganz im Zeichen der Übergröße, wie das Statistische Bundesamt soeben bestätigte: Dicksein liegt im Trend, schon jeder zweite Deutsche hat das begehrte Übergewicht.

Nur wenigen jedoch fliegt die Fettleibigkeit einfach so zu. Die meisten müssen sich ihre Doppelzentner hart erarbeiten. Schon Kinder und Jugendliche stehen unter dem gewaltigen Druck, mit ihren schwergewichtigen Altersgenossen mithalten zu müssen. Je korpulenter, desto größer die Chance, sich vom ungeliebten Turnunterricht befreien zu lassen. Wer auf dem Schulhof ordentlich mit seinen Viertelpfündern wuchert, ist der King. Um dem Spott der Clique zu entgehen, flüchten sich viele unterernährte Teenies in die häusliche Bewegungslosigkeit, die konzentrierte Beschäftigung mit Handy und Gameboy sowie eine strenge Diät aus Chips und Schokoriegeln. Viele kapitulieren jedoch vor der ungewohnten Disziplin.

Ungleich schwerer haben es allerdings Erwachsene, bei denen sich problematische Ernährungsgewohnheiten bereits eingeschliffen haben. Zu ihnen gehört Claudia P. Sie beschloss von heute auf morgen, ihr Leben radikal zu ändern: „Ich schaute an mir runter und ekelte mich davor, was Körnerbrot, Salat und Mineralwasser aus meinem Körper gemacht hatten“, blickt die 32-Jährige zurück, „dieser flache Bauch, diese hervorstehenden Hüftknochen – so traute ich mich nicht mehr unter Leute.“ Sie verschanzte sich in ihrer Küche und nahm den langwierigen Kampf um die Pfunde auf.

Einige schmerzhafte Tonnen Gyros, Pommes und Pizza später ist aus dem ehemaligen Topmodel eine gemütliche Dicke mit herabhängender Fettschürze unter dem unförmigen Sweatshirt geworden, die sich freudig an ihren ersten öffentlichen Auftritt bei einer Grillparty erinnert: „Meine Freundinnen waren extrem neidisch – so hatten sie auch immer aussehen wollen!“ Allein dafür lohnte sich die anstrengende Kalorienzählerei, wie Claudia P. heute findet.

Viele Zunehmwillige schaffen es jedoch nicht allein. Zu groß ist die Versuchung, das dritte Frühstück einfach mal ausfallen zu lassen. Sie brauchen die Hilfe von Gleichgesinnten, am besten in einer Selbsthilfegruppe oder einer kommerziellen Alternative, wie sie Jörn S. in Anspruch nimmt. Der 26-jährige Kinoangestellte geht dreimal in der Woche ins Fatness-Studio, um dort Aufbau- und Ausdauertraining zu betreiben. „Es geht nicht um den Spaß am Essen“, erläutert er, „es geht um zielgerichtetes Bodyshaping. Du kannst es nur schaffen, wenn du wirklich willst.“

Für die Willensstarken hält das Studio nicht nur Bücher von stämmigen Autoren wie Philip K. Dick, Charles Dickens und Hermes Phettberg bereit, sondern auch ein paar furchteinflößende Maschinen. Eine stopft Jörn S. eine Viertelstunde lang Schmalzkringel in den Hals, eine andere spült einige Liter Fanta hinterher. „Klar, das schmeckt auch. Aber das Wichtigste für mich ist, dass man etwas für sein Selbstbewusstsein tut“, sagt der Mann, der mit seinem weißen T-Shirt im Kino auch als Leinwand arbeiten könnte. „Ich steige auf die Waage und genieße das Gefühl, mich selbst überwunden zu haben – schon wieder vier Kilo mehr!“

Entsprechend groß ist die Verachtung, die man in seinen Kreisen für Leute übrig hat, die sich einfach so gehen lassen. „Waschbrettbauch, sichtbare Rippen – wenn ich so was sehe, wird mir schlecht“, sagt Jörn S. abfällig, „das könnte ich mir beruflich gar nicht leisten.“ So ist es auch kein Wunder, dass sich dem neuen Schönheitsideal gemäß in der Gesellschaft mittlerweile brutale Auslesemechanismen ausbilden. Magere Menschen werden auf der Straße immer häufiger unverhohlen angestarrt und als „Klappergestell“ beschimpft. Sie finden keinen Partner, verdienen deutlich weniger als ihre vollschlanken Mitbürger und werden sich diesen Sommer sicherlich dick anziehen müssen.

Denn die Reichen und die Dicken bleiben zunehmend unter sich – zum Beispiel in der Diskothek „Zillionaire“ auf Sardinien, die mit einigen echten Rubens-Gemälden prunken kann. Zwar versucht sich hier so manches magersüchtige Starlet mit einem Kissen unter dem Kleid hineinzuschmuggeln. Doch es hilft nichts: Die Türsteher greifen verdächtige Personen routinemäßig aus der Warteschlange heraus und stellen sie notfalls sogar auf die Waage. „Am liebsten sehen wir die Damen im großen Schwarzen, vielleicht in einem Kaftan von Dior oder einer Tunika von Ulla Popken“, bestätigt der Geschäftsführer auf Nachfrage die rigide Türpolitik, „aber für beiderlei Geschlecht gilt: Unter einem Body-Mass-Index von 35 geht hier absolut nichts.“

MARK-STEFAN TIETZE