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Archiv-Artikel

Doppelstrategie der Ajatollahs

Einerseits führt der Iran einen Propagandafeldzug gegen die US-Besatzungstruppenim Irak, andererseits kooperiert die Teheraner Staatsführung mit dem „großen Satan“

Was die herrschenden Ajatollahs unbedingt verhindern wollen, ist ein demokratischer und säkularer Irak

An einigen der belebtesten Straßen Teherans sind die inzwischen weltweit bekannten Folterbilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib plakatiert. Neben Lynndie England, die einen nackten Gefangenen an der Leine hält, und dem an Stromkabeln angeschlossenen Häftling mit Kapuze hängt noch ein drittes Foto. Es zeigt einen palästinensischen Vater, dessen Sohn von israelischen Soldaten erschossen wurde. „Gestern Palästina, heute Irak“, steht daneben.

In den vergangenen Wochen, insbesondere seit den Angriffen der Besatzer im Irak gegen die heiligen Städte Nadschaf und Kerbela, nutzte die iranische Staatsführung jede Gelegenheit, um Emotionen gegen die USA zu schüren. Revolutionsführer Ali Chamenei erklärte den vergangenen Freitag wegen der „Entweihung“ heiliger schiitischer Stätten zum nationalen Trauertag. Der „heilige Charakter“ der Sahleh-Moschee und der Schrein des Imam Ali in Nadschaf seien zum Ziel der US-geführten Besatzungsstreitkräfte geworden. Mit derartigen Aktionen sowie „Gräueltaten“ an irakischen Gefangenen hätten die USA „Hass im Herzen des irakischen Volkes gesät“, betonte der Revolutionsführer in seiner Botschaft an „das Volk der gläubigen Muslime“. Wohl nicht ohne Zustimmung der herrschenden Geistlichkeit demonstrierten einige hundert Studenten mehrfach vor der britischen Botschaft und bewarfen das Gebäude mit Steinen und Molotowcocktails. Noch radikaler gebärdeten sich einige islamistische Führer paramilitärischer Organisationen. Sie riefen zu freiwilliger Teilnahme an Selbstmordkommandos auf. Der Internetdienst Rouydad berichtete, dass die erste Truppe von Selbstmordattentätern auf dem Weg in den Irak sei.

Diese verbalen Attacken und Propagandafeldzüge stehen im Widerspruch zu der offiziellen Politik Irans. Teheran war zwar entschieden gegen den amerikanischen Angriff auf den Irak – vor allem aus Furcht, die USA würden im Falle eines Erfolgs auch vor der iranischen Grenze nicht Halt machen. Doch gegen den Sturz Saddam Husseins hatte man absolut nichts einzuwenden. Ähnlich wie im Krieg gegen Afghanistan war der Iran auch während der Invasion gegen den Irak bereit, mit dem „großen Satan“ USA zu kooperieren. In mehreren Geheimverhandlungen wurden militärische und Sicherheitsfragen erörtert. Außerdem gehörte der Iran zu den Ländern, die den von den USA eingesetzten provisorischen irakischen Regierungsrat sofort nach dessen Bildung offiziell anerkannten. Mehrere seiner Mitglieder hielten sich in den vergangenen Monaten erstaunlich oft zu Gesprächen in Teheran auf.

Der Iran verfügt über weitreichenden Einfluss im mehrheitlich von Schiiten bewohnten Nachbarland Irak. Die meisten schiitischen Großajatollahs im Irak sind iranischer Herkunft. Der Iran bildete auch das wichtigste Exilland für irakische Oppositionelle, die vor dem Regime in Bagdad flüchteten. Die Führer der Bewegung al-Dawa, die vor über 20 Jahren vom Saddam-Regime niedergeschlagen wurde, begaben sich schon 1980, zu Beginn des iranisch-irakischen Krieges, in den Iran. Ihnen folgten tausende Mitglieder, die dort militärisch geschult wurden. Sie bildeten den militärischen Arm des „Hohen Rats der Islamischen Revolution Iraks“ (Sciri), den Schiitenführer Ajatollah Hakim im Iran gegründet hatte. Auch zu den beiden großen kurdischen Organisationen pflegte Teheran über Jahrzehnte enge Beziehungen, obwohl die Kurden im eigenen Land unterdrückt und bekämpft wurden.

Zwischen dem Iran und dem Irak herrscht ein reger Verkehr. Rund 4.000 Personen passieren täglich aus dem Iran kommend die irakische Grenze – trotz des von den Besatzungsmächten verhängten Einreiseverbots. Sie haben sehr unterschiedliche Motive für die abenteuerliche und lebensgefährliche Reise. Zum Teil handelt es sich um Pilger, die nach dem Sturz von Saddam Hussein endlich den Besuch der für die Schiiten wichtigsten Heiligtümer in Nadschaf und Kerbela wagen können. Auch Schmuggler sind unterwegs, die die guten Chancen auf lukrative Geschäfte in dem kriegszerstörten Land wahrnehmen wollen. Die USA sind überzeugt, dass sich unter den Reisenden auch politisch-religiöse Aktivisten, Terroristen und sogar Selbstmordkommandos befinden. Immer wieder wirft US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld dem Iran und Syrien vor, sie würden ihre Grenzen unzureichend kontrollieren und die Einreise von Terroristen nicht verhindern. Teheran bezeichnete diese Behauptung als völlig abwegig, und Außenamtssprecher Hamidresa Assefi gibt den Ball zurück: „Die Ursache für die Ausbreitung des Terrorismus im Irak liegt beim Verhalten der USA. Die Amerikaner wollen die Schuld für das, was sie selbst angerichtet haben, anderen in die Schuhe schieben.“

Bilanzierend ist festzustellen, dass der Iran seit Kriegsbeginn eine Doppelstrategie verfolgt. Einerseits unterstützt die Staatsführung den irakischen Widerstand. Ziel ist zu verhindern, dass die US-Kriegsaktion Erfolg hat; im Gegenteil soll sich die Besatzungsmacht gezwungen sehen, trotz Misserfolgs oder gar Niederlage das Land zu verlassen. Denn ein Erfolg der USA im Irak könnte für die Islamische Republik verheerende Folgen haben. Die Angriffsstrategie könnte Schule machen und der Iran wäre vermutlich das nächste Land, das sich die USA vornehmen würden.

Iran verfügt über weitreichenden Einfluss im mehrheitlich von Schiiten bewohnten Nachbarland Irak

Auf der anderen Seite will sich die Islamische Republik aber auch als Macht des Friedens präsentieren und als Vermittler im irakischen Konflikt international akzeptiert werden. „Wir sind bestrebt, das irakische Volk bei der Bildung eines demokratischen Staates zu unterstützen“, sagte der iranische Außenminister Kamal Charrasi. „Als Saddam Hussein regierte, haben wir den irakischen Widerstand unterstützt. Sämtliche Gruppen der irakischen Opposition, ob Schiiten, Sunniten oder Kurden, sie alle zählten zu unseren Freunden.“ Charrasi bestritt zwar jegliche direkte Zusammenarbeit mit den USA. Doch er betonte zugleich, dass sowohl Teheran als auch Washington den Wunsch hätten, den Konflikt im Irak zu beenden und Frieden herzustellen. Er fügte hinzu: „Die Amerikaner erkennen zwar die positive Rolle Irans im Irak an, aber sie messen dem Rat anderer Staaten keine Bedeutung bei.“ Das ist ein deutliches Angebot zur Zusammenarbeit an jene Supermacht, die seit 25 Jahren als Inbegriff des Bösen dargestellt wird.

Den herrschenden Ajatollahs im Iran ist bewusst, dass der Wunsch, auch im Irak einen Gottesstaat zu gründen, völlig abwegig ist. Sämtliche einflussreiche Führer der irakischen Schiiten lehnen einen solchen Staat ab. Gleichzeitig steht jedoch fest, dass die Schiiten im künftigen irakischen Staat eine dominante Rolle spielen werden. Ein solcher Staat könnte für Iran Machtzuwachs bedeuten – es sei denn, dieser Staat wird tatsächlich demokratisch und säkular. Eine solche Entwicklung würde ohne Zweifel auch Auswirkungen auf den Iran haben. Deshalb wollen die Herrscher der Islamischen Republik sie unbedingt verhindern. BAHMAN NIRUMAND