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Archiv-Artikel

Strafe für eine Selbstentwertung

Das Europäische Parlament hat zu wenig Macht – und die Rechte, die es hat, schöpft es nicht aus. Darum werden die Wähler die Abgeordneten in Straßburg zu Recht ignorieren

An Schlankheit erreicht keine deutsche Verwaltung auch nur annähernd EU-Standards

Inzwischen werden die Europawahlen etwa so stark beachtet wie Randsportarten. 1979, bei der ersten Direktwahl, gingen noch zwei Drittel der Stimmberechtigten (65,9 Prozent) in die Wahllokale, zwanzig Jahre später weniger als die Hälfte (45,2 Prozent). Wenn sich der Trend am 13. Juni fortsetzt, darf man mit einer Quote unter 40 Prozent rechnen.

Landläufig werden steigende Nichtwählerquoten auf „Politikverdrossenheit“ oder „Europamüdigkeit“ zurückgeführt. Aber solche wohlfeilen Floskeln vernebeln mehr, als sie erklären, weil sie die strukturellen Gründe und die EU-spezifischen Systemdefizite ausblenden, mit denen die Wahlabstinenz zusammenhängt. Die strukturellen Gründe für die steigenden Nichtwählerquoten sind auf europäischer Ebene dieselben wie bei lokalen und nationalen Wahlen. Freilich gibt es darüber hinaus spezifische EU-Systemdefizite, die die Nichtwählerquote bei den EU-Wahlen gegenüber den Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahlen anschwellen lassen.

Warum die Beteiligung an allen Wahlen sinkt, ist schon länger bekannt. Die Theatralisierung von Politik im Namen und unter dem Diktat von Parteirhetorik und Machterhaltungslogik wird von immer mehr Wählerinnen und Wählern durchschaut. Das Publikum wendet sich gelangweilt und angeödet ab. Im politischen Alltag wie im Wahlkampf geht es längst nicht mehr um politische Debatten, um scharfe Analysen und überzeugende Alternativen, sondern fast nur noch um staatstheatertauglichen Klamauk. Der Streit um das Einwanderungsgesetz belegt das ebenso wie die Balgerei und Trickserei, mit denen sich Schily, Beckstein und Co. um den besten Platz vor den Kameras bemühen, um sich als Helden der Abschiebung zu profilieren.

Parlamente fungieren weitgehend als Abnickmaschinen für Vorhaben, die entweder Partei- und Fraktionsvorstände ausarbeiten lassen oder die von Klüngeln, Kommissionen und Beiräten, die in der Verfassung nicht vorgesehen sind, bis ins Detail ausgeheckt werden. Anschließend darf das Parlament den Vorlagen, die sicherheitshalber mit der Machtfrage verbunden werden, in einem Akt von Selbstdemontage zustimmen.

Partei- und Regierungspolitik beruhen auf einer Arbeitsteilung, die sich immer mehr derjenigen zwischen Priestern und Laien in der traditionalistischen katholischen Kirche annähert. Berufspolitiker wollen von „den Menschen draußen im Lande“, wie es entlarvend heißt, nicht gestört werden. Die Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern ist im Politikverständnis der „Profis“ ebenso wenig vorgesehen wie eine funktionierende politische Öffentlichkeit. Die Auswahl der Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten in Westerwelles beziehungsweise Schröders Küchenkabinett spricht Bände. Eine öffentliche Debatte über die Kandidaten fand nicht statt, die Parteiarbeiter waren rund um die Uhr damit beschäftigt, ihren Leuten Wahldisziplin einzuflößen. So entwertet sich der Parlamentarismus auf nationaler Ebene selbst. Und die europäische folgt, denn zu den strukturellen Gründen für die Wahlabstinenz kommen die EU-spezifischen Systemdefizite hinzu.

Obwohl die Kompetenzen des EU-Parlaments in den letzten Jahren erheblich erweitert wurden, hat es noch längst nicht jene Befugnisse, die einem demokratisch legitimierten Parlament zustehen. Verantwortlich dafür ist nicht allein das Parlament. Auch die nationalen Regierungen tragen Schuld. Nicht nur dass sie ihre Zuständigkeiten mit Zähnen und Klauen verteidigen, sie scheuen sich obendrein, öffentlich zu thematisieren, in welchem Ausmaß sie bereits Kompetenzen nach Straßburg und Brüssel abgegeben haben. Um ihren faktischen Bedeutungsverlust zu überdecken, nehmen sie lieber die ungenügende Wahrnehmung der europäischen Kollegen in Kauf.

Freilich trägt auch das EU-Parlament selbst zu seiner nebelhaften Erscheinung bei. Denn es nützt nicht einmal jene Kompetenzen voll aus, die ihm zustehen. Das Rückgrat jedes Parlaments – die Oberhoheit über den Haushalt – fehlt dem EU-Parlament. Für den Haushalt ist es mit dem EU-Ministerrat gemeinsam zuständig. Die neue EU-Verfassung sieht immerhin eine Art Vermittlungsverfahren für den Konfliktfall vor. Die famose bisherige Arbeitsteilung führte zu der politischen Farce, dass das EU-Parlament 1999 der EU-Kommission die Entlastung für den Haushalt 1996 verweigerte, was aber völlig folgenlos blieb. Im Prinzip kann das EU-Parlament der Kommission das Misstrauen aussprechen und diese zum Rücktritt zwingen. Aber es machte von diesem Recht noch nie Gebrauch.

Eine schwere Hypothek bürden die nationalen Parteien dem EU-Parlament auf. Von einigen Ausnahmen abgesehen nominieren sie verdiente Parteiarbeiter für das Parlament. Altgedienten und national abgehalfterten Politikern sollen im schönen Straßburg ein Gnadenbrot und eine komfortable Altersversorgung gesichert werden. Solange die Parteien an diesen Personalentscheidungen festhalten, wird das EU-Parlament sein Image als Pensionssicherungsanstalt für Parteisoldaten nicht loswerden. Die Personalauswahl wirkt wie ein Signal dafür, dass man „Straßburg“ vergessen kann. Schließlich lasten auf dem EU-Parlament Mythos und Realität von „Brüssel“.

Die Theatralisierung von Politik unter dem Diktat von Parteirhetorik hinterfragen immer mehr Wähler

Zum Mythos „Brüssel“ gehört die Vorstellung vom bürokratischen Wasserkopf und vom „betonierten Albtraum“ der EU-Beamten, die angeblich unentwegt damit beschäftigt sind, die Krümmung von Bananen zu normieren. Jede Bürokratie vergaloppiert sich gelegentlich und produziert Blödsinn. Aber was als „Brüsseler Superstaat“ verspottet wird, beruht zum größten Teil auf chauvinistischen Ressentiments in der Preislage von denen, die Dirk Schümer (FAZ) vor ein paar Jahren präsentierte, indem er über die Beziehungen des Kinderschänders Dutroux mit den „Sitten der Eurokraten“ spekulierte. Die Realitäten sehen anders aus: Mit rund 20.000 Mitarbeitern gehört die EU-Verwaltung zu den effizientesten. Direkte Zahlenvergleiche mit der Beamtenschaft von deutschen Bundesländern sind wegen der unterschiedlichen Aufgaben nicht möglich. Aber an Schlankheit erreicht keine deutsche Verwaltung auch nur annähernd EU-Standards.

Zu den Brüsseler Realitäten, für die das EU-Parlament mitverantwortlich ist, gehört freilich auch der Dauerskandal der Agrarpolitik. 2001 verschlang der EU-Agrarhaushalt 51 Prozent des Gesamthaushalts oder 48 Milliarden Euro. Die Ausgaben für „Direktbeihilfen“, für „Marktstützungsausgaben“ und dergleichen steigen nach wie vor. Die europäische Überschussproduktion bei Wein, Fleisch, Milch, Zucker und Getreide wird „heruntersubventioniert“, um die Produkte exportfähig zu machen. So trägt die EU maßgeblich dazu bei, die landwirtschaftliche Produktion in den armen Ländern zu zerstören. Wenn überhaupt, kamen Lösungsansätze hier – etwa in der Baumwoll- oder Zuckerordnung – vom Rat. Und das Parlament schaut zu.

RUDOLF WALTHER