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Archiv-Artikel

Betr.: Europawahl

Führen Sie die Wahlpflicht ein. Belgien hat damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Die niederländisch sprechenden Flamen, die frankophonen Wallonen und auch die Brüsseler sehen sich meist nicht als Bürger der ganzen Nation. Auch auf europäischer Ebene fehlt bislang ein solches Wir-Gefühl. Bis sich das ändert, kann eine europäische Wahlpflicht-Verordnung nicht schaden. Jeder wäre dann wenigstens einmal in fünf Jahren in der Wahlkabine allein mit sich und seinen Erwartungen an die Europäische Union. Auch sonst hat Belgien, das kleine Land im Herzen des alten Europa, durchaus Modellcharakter. Von Belgien kann der ganze Kontinent lernen, wie er zum Beispiel mit der Sprachverwirrung und einem komplizierten politischen System umgeht. Denn die Belgierinnen und Belgier leben seit Jahren irgendwie damit, dass sie auf jeder Versammlung Kopfhörer brauchen und kein Flame weiß, was gerade innenpolitisch in der Wallonie los ist. Dennoch liegt die Wahlbeteiligung alle fünf Jahre bei satten neunzig Prozent.

Finden Sie eine europäische Integrationsfigur. Auch damit hat Belgien gute Erfahrungen gemacht – der König gehört allen, abfällige Bemerkungen sind tabu. Wer aber ist in Europa geeignet für den Job? Bono von der irischen Popgruppe U 2 hat sich ja letzte Woche gut eingeführt, als er mit den europäischen Entwicklungshilfeministern in Dublin zusammensaß. Zu viel außenpolitisches Profil, noch dazu von einem Iren, könnten die Briten aber in den falschen Hals bekommen. Prinz William wäre auch genügend telegen, aber er ist nun wieder ein bisschen zu britisch, als dass man ihm gesamteuropäisches Engagement abkaufen würde. Giscard d’Estaing? Kein Hoffnungsträger für junge Wähler. Politisch zu wenig zurückhaltend für einen reinen Repräsentationsjob. Vielleicht wäre ein König aus der Welt des Sports das Richtige: Holen wir Michael Schumacher zur großen Wahlrallye nach Francorchamps und machen wir ihn zum Europameister der Herzen. Als Bandenwerbung sind nur Wahllosungen erlaubt – Philip Morris muss draußen bleiben.

Benennen Sie einen Bösewicht, auf den die Wähler mit Abscheu und Entsetzen zeigen können. Verbrechen und Sport – das ist der Humus, auf dem ein Wir-Gefühl gedeiht. Es müssen ja nicht – wie in Belgien – die Opfer eines Massenmörders sein, mit denen sich die Menschen solidarisieren. Wahrscheinlich reicht ein europäischer Michael Kohlhaas oder ein Don Quichote, der gegen die Windmühlenflügel der Brüsseler Bürokratie kämpft. Der Journalist Hans-Martin Tillack vom Stern zum Beispiel. Er hat die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof auf 250.000 Euro Schadenersatz verklagt. Außerdem soll das Gericht verhindern, dass die aus seinem Büro beschlagnahmten Unterlagen der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf übergeben werden. Auch wieder so eine euro-belgische Geschichte: Eine Mischung aus Übereifer und unklaren Kompetenzen hat dazu geführt, dass der ganze Büroinhalt eines Journalisten beim belgischen Untersuchungsrichter landete. Die Hamburger Justizbehörde, die auf Aufforderung von Olaf der dortigen Zentrale des Sterns einen Besuch hätte abstatten sollen, weigerte sich. In Deutschland und vielen anderen EU-Ländern sind die Informanten eines Journalisten nämlich geschützt – so ein Gesetz brauchen wir europaweit.

Schaffen Sie europäische Medien. Damit die Kandidaten den Weg in die Herzen der Bürger finden können, brauchen sie eine Plattform. Das Fehlen einer gemeinsamen europäische Öffentlichkeit wird gern angemahnt. Aber wollen wir wirklich Arte von Lappland bis Sizilien? Etwas weniger abgehoben dürfte das Programm schon sein. Höhere Einschaltquoten wären kein Schaden. Aber die Grundidee von Arte ist richtig. Sie muss nur erweitert werden: Filmproduktionen aus allen Ländern der EU in mehreren Synchronfassungen, dazu Bildschirmtext-Seiten mit Zusammenfassungen und Untertiteln in allen europäischen Sprachen. Ein tägliches Ländermagazin EU 25 mit politischen und bunten Geschichten und stündlich Nachrichten mit Berichten, Kommentaren und Analysen aus den Institutionen in Brüssel, Straßburg und Luxemburg. Fördermittel der EU-Kommission stehen bereit . sie müssen nur in die richtigen Kanäle gelenkt werden. Wenn noch Geld übrig ist, wäre über eine europäische Version von Stern oder Paris Match nachzudenken. Es wird Zeit, dass die Menschen in Europa ihre Nachbarn kennen lernen. Zinedine Zidane hat eine Beziehungskrise? Wäre das nicht eine Abwechslung zum Gejammer von Ollie Kahn?

Nutzen Sie großes Kino, um Ihre Botschaften zu transportieren. Die Grünen haben den Anfang schon gemacht – leider mit einer Produktion aus Hollywood. Statt „The day after tomorrow“ mit pädagogischen Flyern über die Klimakatastrophe zu begleiten, könnten sich europäische Produzenten auch selber ein Horrorszenario ausdenken. Arbeitstitel: „The day before“. Eine Stimme aus dem Off droht: „Wir schreiben den dreizehnten Juni zweitausendundvier. Ganz Gallien steckt unter einer dicken Eisdecke fest. Das Thermometer zeigt minus vierzig Grad Celsius. Minus vierzig Grad Fahrenheit. Nun rächt sich, dass die schwedische Umweltkommissarin das Klimadiktat der Großindustrie widerstandslos akzeptiert hat. Während in den verödeten Metropolen Mitteleuropas die Wahlurnen zufrieren, macht sich ein unbeugsames Völkchen mitten in Gallien unbeirrbar auf den Weg, um seine staatsbürgerliche Pflicht zu tun …“

Einigen Sie sich endlich auf eine Lingua Franca. Es muss ja nicht unbedingt Latein sein. Auch die Idee des Esperanto, aus allen sprachlichen Wurzeln Europas ein völlig neues Gemisch herzustellen, hat sich nicht durchsetzen können. Wenn alle fünfundzwanzig EU-Länder weiter darauf pochen, dass die Hürde für alle genau gleich hoch sein muss, dann bleibt nur Klingonisch – ein Wörterbuch dafür gibt es schon: infoportal-deutschland.aus-stade.de/Klingon/klingonisch-deutsch.htm. Wollten sich die Mitgliedsstaaten aber ausnahmsweise nicht von der Sorge leiten lassen, schlechter als die anderen gestellt zu sein, dann spräche nichts gegen Englisch. Die meisten jungen Leute aus den neuen Mitgliedsländern sprechen es sehr gut, die anderen müssten es eben lernen. Chirac würde toben, Tony Blair fein lächeln. Dass wir uns endlich miteinander unterhalten können, müsste uns aber darüber hinwegtrösten.

Eine richtige Wahl braucht starke Sprüche. Haben Sie sich mal angesehen, was europaweit an Wahlslogans so auf dem Markt ist? „Avec l’Europe voyons la France en grand“, meint die UMP. Und die Tories versprechen, Britannien an die erste Stelle zu setzen. Die CDU behauptet: „Deutschland kann mehr“. Nationalistisch, plump und laaaaaaaangweilig. So kann das ja nichts werden. Stets haben sich griffige Slogans bewährt, die politische Ziele eindringlich rüberbringen: „Freier Markt für freie Bürger“ (das wäre was für die FDP) oder: „Globalisierung macht Spaß!“ (New Labour). „Wir müssen leider draußen bleiben“ (nicht nur ein Stoiber-Spruch, taugt auch für viele dänische oder niederländische Bewerber). Mit „Augenmaß beim Klimaschutz!“ könnte man in Spanien oder Griechenland Stimmen holen. Deutsche Sozialdemokraten könnten sich vielleicht mit „Hände weg vom VW-Gesetz“ anfreunden.

Muten Sie Ihren Wählern ruhig ein paar Inhalte zu. Die Verpackung hätten wir also – und das ist in der Politik ja das Wichtigste. Ein bisschen was müssen wir aber auch reintun. Dass es keine europäischen Themen gäbe, ist ein Gerücht. Jede Menge wichtiger Grundsatzfragen stehen demnächst zur Entscheidung an: Wo endet die Europäische Union? Wer die Türkei-Frage nicht im Wahlkampf haben will, überlässt sie damit den Stammtischen. Wollen wir mehr Umweltschutz? Und sind wir bereit, die Kosten zu tragen? Mehr Tierschutz – auch wenn Lebensmittel dadurch teurer werden? Mehr Sicherheit vor terroristischen Anschlägen – um den Preis persönlicher Freiheit? Strenge Regeln für alle – oder mehr bunte nationalstaatliche Eigenwege? Eine europäische Verfassung – und was soll drinstehen? Ein richtiger Themenwahlkampf – das wäre doch mal eine wohl tuende Abwechslung. FOTOS: AP, REUTERS, ARCHIV