: Verzärtelte Generation
Ein orientierungsloser Jüngling, der sich nicht zu verorten weiß, reist vor lauter Verzweiflung schnurstracks zur Sonne: Claudius Lünstedts „Vaterlos“ wurde bei den Autorentheatertagen am Hamburger Thalia Theater uraufgeführt
Es ist ein Thema, das so schön in den aktuellen Diskurs passt und eins der vielen Erklärungsmuster durchdekliniert, die diese Gesellschaft gerade mal wieder gefunden zu haben glaubt: Vaterlos heißt Claudius Lünstedts Stück, dessen Uraufführung jetzt – Koproduktion des Theaterhauses Jena und der Sophiensäle Berlin unter Regie von Stephanie Sewella – die Autorentheatertage am Hamburger Thalia in der Gaußstraße bereicherte.
Ein spätpubertierender 18-Jähriger prägt den Plot, der immer wieder „Notschreie“ ausstößt, mordet und zündelt, bloß weil er seinen Vater nicht kennt. „Ich hab das Recht, einen Vater zu haben“, sagt er zur Mutter, die den Erzeuger nicht nennen will; fast klingt es wie das „Recht auf Heimat“. Ein Erlösungsgedanke scheint auf in dem maniriert als siebentägige „Schöpfungsgeschichte“ angelegten Stück, in dem sich Felix (Jörg Schiebe) schließlich Sol, den römischen Sonnengott, als Vater erfindet, dessen Sohn Phaethon – der entstammt allerdings der griechischen Mythologie – er sein will.
Dieser Allmächtige, Deus ex Machina, soll‘s jedenfalls richten, soll ihm seinen Platz in dieser Welt zeigen, soll dem Sohn sagen, wer er ist und warum. Dabei ist es natürlich ganz praktisch, mit einem Abwesenden zu rechnen, anstatt sich den Repliken eines real Existierenden zu stellen. Und überhaupt: Worin besteht eigentlich Felix‘ Ideal? In einem autoritären Vater wie Orgon, der Felix‘ Freund Abadi malträtiert und Katzen tötet? Im lächerlichen Förster, den Felix kurzerhand stranguliert, als der ihn nicht durchlassen will? Im Aufseher, der, statt zu schießen, lieber „unauffällig“ bleibt?
Keine Identifikationsfigur, nirgends, und so flüchtet Felix folgerichtig in die Mythologie patriarchalischer antiker Gesellschaften. Einen, der rückhaltlos stolz auf ihn ist, will er, einen, der zu ihm hält, ohne dass er viel geben muss – eine egozentrische Erwartungshaltung, die auch die Beziehung zu seinen Freunden prägt: Abadi (Godehard Giese) stößt er wegen einer minimalen Provokation vom Dach, und Lela (Tilla Kratochwil) soll zu ihm stehen, obwohl er zündelt und mordet. „Ich kann nix dafür“, sagt Felix lapidar, wenn man nach Erklärungen fragt. „Funktionsstörung. Ein Übertragungsfehler in Kopf“, antwortet er mit verschlagenem Lächeln; schließlich haben ihm seine Mutter und die wohlmeinende Gesellschaft solche Selbstentschuldigungs-Vokabeln eigens beigebracht.
Auch die Mutter (Anna Stieblich) kann eigentlich „nix dafür“ – und wenn doch, dann sagt sie einfach „mein Kind mordet nicht“ und behauptet wider besseres Wissen „er wird mir gehorchen“. Warum sie ihn verzärtelte, warum etliche Mütter das tun, anstatt ihren Söhnen eine adäquate Frustrationstoleranz oder gar Verantwortungsbewusstsein beizubringen, fragt allerdings weder das Stück noch irgendwer in der aktuellen Diskussion. Und so reist der zunehmend brutaler Werdende unaufhaltsam „gen Sonne“, und nie offenbart sich, ob er das Irresein – Büchners Lenz lässt grüßen – tief empfindet oder ob dies seine Maske ist.
Alles in allem aber haben Stück und Inszenierung – wenn auch interessant changierend zwischen antikisierendem Stil, ironisiertem Befehlston und Märchen-Versatzstücken – etliche Längen und zeichnen den Protagonisten merkwürdig statisch. Es sei denn, man deutete die fortschreitende Gewalt und den Entschluss zum Kabale-und-Liebe-artigen Doppelselbstmord mit Lela – der dann nicht passiert – als persönliche Weiterentwicklung. Gerobbt, auf Schulstühlen gesessen, lamentiert wird in diesem Stück Schauspielertheater. Das so bequeme Erklärungsmuster „vaterlos“ zu hinterfragen – das gelingt allerdings weder dem Autor noch der Regisseurin.
Petra Schellen