: Albtraum Odessa
Der Tod, zwei Flugstunden entfernt: Dokumenation über Aidskranke in der Stadt am Schwarzen Meer
Odessa, etwas über eine Million Einwohner. Stadt des Matrosenaufstands von 1905. Der brach aus, weil man den Seeleuten verfaultes Fleisch zu essen gab. Heute, knapp 100 Jahre später, müsste es eine neue Revolte geben. Eine gegen ein absolut brutales, frühkapitalistisches System, in dem Kranke als „menschlicher Abfall“ betrachtet werden.
Der Berliner Filmemacher Karsten Hein war im Oktober 2003 mit der Krankenschwester Inge Banczyk, die im Berliner Auguste-Viktoria-Krankenhaus die Tagesklinik für Aidskranke leitet, in Odessa. Ihr Film ist eine erschütternde Dokumentation des Leids – „zwei Flugstunden von uns entfernt“.
Die Junkies in der Ukraine sind so arm, dass sie sich statt Heroin oft einen selbst gebrauten Saft aus der Mohnkapsel injizieren. Spritzen werden getauscht, HIV ist massenhaft verbreitet. Man schätzt, dass es allein in Odessa über 100.000 HIV-Fälle gibt. Mehr als 10 Prozent der Bevölkerung sind so einem durch und durch korrupten Staat und einer Gesundheitsversorgung ausgesetzt, die es auf dem Papier zwar für jeden gibt, in der Realität aber fast nur gegen Cash. Bei wem Aids als Krankheit ausbricht, der landet in Krankenhäusern, die jeder nicht nur hygienischen Beschreibung spotten. Außer Aspirin gibt es keine Schmerzmittel, Aidsmedikamente sind unbezahlbar. Lebensmittel, so überhaupt für die Patienten vorhanden, werden im gleichen Wagen transportiert wie die Leichen, die man fast täglich aus einem vergitterten alten Knast schleppt. Weit vor den Toren der Stadt dient er als Hospital für TB (bei uns heilbar, hier fast Todesurteil) und Aidskranke.
Hein und Banczyk haben viele Kranke und ihre Verwandten interviewt. „Bei uns ist man Jäger oder Wild – ich wollte zu den Jägern gehören“, erzählt ein Junkie mit leerem Blick. Hilfe aus dem Ausland gibt es fast keine. 20 Millionen Dollar eines Hilfsprogramms sind nie bei den Patienten angekommen. Menschen, die in Odessa wie schlafend auf der Straße liegen, sind oft schon längst gestorben. Diese Bilder sind ein Albtraum, der einen lange festhält. A.B.
„So wollen wir nicht sterben. Aids in Odessa“. Premiere heute, 19 Uhr, im Filmkunsthaus Babylon