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Archiv-Artikel

„Der alte Hass wird vergehen“

„Demütig“ und „dankbar“ nimmt Obama seine neue Aufgabe an und betont vor einem Millionenpublikum die Einigkeit der USA

KING: „SPÄTESTENS IN 25 JAHREN“

Bob McKenzie, BBC: Als Robert Kennedy noch Justizminister war, sagte er, er könne sich vorstellen, dass in vielleicht 40 Jahren ein Schwarzer* US-Präsident wird. Ist das realistisch? Martin Luther King: Lassen Sie mich zunächst klarstellen, dass es auch heute Schwarze gibt, die dafür qualifiziert sind, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Viele sind qualifiziert, was ihre Integrität, Vision, Führungsfähigkeiten angeht. Aber wie Sie wissen, gibt es gewisse Probleme, Vorurteile und Bräuche in unserer Gesellschaft, die das heute schwierig machen. Dennoch schaue ich sehr optimistisch in die Zukunft. (…) Ich habe ein Maß in der Verwirklichung der Bürgerrechte und Veränderungen erlebt, die wirklich sehr überraschend waren. Auf dieser Basis denke ich, dass wir schon in weniger als 40 Jahren einen schwarzen Präsidenten haben könnten. Ich denke, das könnte in spätestens 25 Jahren der Fall sein. * In diesem Interview von 1964 sprechen beide Gesprächspartner von „negroes“, also „Negern“.

Von THILO KNOTT UND ADRIENNE WOLTERSDORF

In keiner anderen Hauptstadt der Welt ist die Geschichte eines Landes auf vier Kilometern Länge und 91 Metern Breite zusammengefasst. Nur in Washington. Im Westen der National Mall steht das Lincoln Memorial, in dem der Präsident des Bürgerkriegs überdimensioniert thront. Von dort gelangt man zum Washington Monument zu Ehren der Unabhängigkeit Amerikas und des ersten amerikanischen Präsidenten, George Washington. An den Seiten gibt es Orte der Erinnerung an Kriege: Zweiter Weltkrieg, Korea, Vietnam. Im Osten schließlich das Kapitol, der von Sklaven erbaute Sitz des Kongresses. Auf dessen Treppen gestern Abend, 12 Uhr Ortszeit, eine neue historische Ära: Der 44. Präsident der USA, der erste schwarze Präsident der USA, Barack Hussein Obama, wurde vereidigt.

Er spricht die in der Verfassung vorgeschriebenen Worte: „Ich gelobe feierlich, dass ich das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten getreulich ausüben und die Verfassung der Vereinigten Staaten nach besten Kräften erhalten, schützen und verteidigen werde.“ Bei der Vereidigung legt der neue US-Präsident die Hand auf eine Bibel. Der Eidesformel fügt er wie fast alle seiner Vorgänger den religiösen Zusatz hinzu: „So wahr mir Gott helfe.“

Der 47-Jährige verhakt sich beim Eid zweimal. Er nimmt es wie immer und lacht. Kurz vor seinem Amtsantritt Obamas war auch Vizepräsident Joe Biden vereidigt worden. Der strikt konservative evangelikale Pastor Rick Warren sprach ein Bittgebet.

Zwei Millionen Menschen waren dabei an diesem historischen Tag. Sie versammelten sich an der National Mall. Auch die noch lebenden Präsidenten der USA waren anwesend: Jimmy Carter, George W. Bush senior und junior und Bill Clinton.

Obama sprach zu den Bürgern Amerikas – und zur Welt. „Liebe Bürger und Bürgerinnen, ich stehe hier und heute vor Ihnen, demütig vor der Aufgabe, die vor uns liegt, dankbar für das Vertrauen, das Sie mir geschenkt haben“, lauteten seine ersten Worte als vereidigter Präsident.

Die Aufgabe, die vor ihm liegt, übernimmt er „inmitten einer Krise“, sagte Obama. „Unsere Nation befindet sich im Krieg gegen ein Netzwerk von Gewalt und Hass.“ Die amerikanische Wirtschaft sei schlimm geschwächt. Viele Menschen hätten ihre Häuser verloren. Das Gesundheitssystem sei zu teuer. „ Heute sage ich euch: Die Herausforderungen sind real. Sie sind ernst, und es sind viele. Sie werden weder leicht noch in kurzer Zeit zu bewältigen sein. Aber wisse dies, Amerika: Sie werden bewältigt werden.“ Denn, so fuhr er fort: „Wir sind zusammengekommen, weil wir die Hoffnung und nicht die Angst gewählt haben, weil wir die Zweckgemeinschaft über den Konflikt und die Uneinigkeit stellen.“

Wie schon im Wahlkampf betonte Obama die gesellschaftliche Einheit der USA, die Überwindung der gesellschaftlichen Gräben. „Wir wissen, dass unser ‚Patchwork‘-Erbe eine Stärke ist und keine Schwäche. Wir sind eine Nation von Christen und Muslimen, Juden und Hindus – und Ungläubigen. Wir wurden von jeder Sprache und Kultur aus jeder Ecke der Welt geformt, und weil wir den Geschmack des bitteren Gesöffs des Bürgerkrieges und der Rassentrennung kennen und aus diesem dunklen Kapitel stärker und vereinter hervorgingen.“ Denn, so formulierte er in einer der wenigen pathetischeren Stellen: „Wir können nicht anders als zu glauben, dass alter Hass vergehen wird.“