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Archiv-Artikel

„Al-Qaida ist stärker als vor dem 11. 9. 2001“, sagt Richard Clarke

Auch Bin Ladens Tod würde al-Qaida nicht schwächen. Denn Bush hat kein Konzept gegen den islamistischen Terror

taz: Herr Clarke, George W. Bush rühmt sich gerne seiner Führungsstärke im so genannten „Krieg gegen den Terror“. War er eigentlich erfolgreich?

Richard Clarke: Präsident Bush sagt gerne, dass man schon zwei Drittel der bekannten al-Qaida-Führung festgenommen oder getötet hat, manchmal spricht er auch von 70 Prozent. Das stimmt für die Al-Qaida-Führung wie sie am 11. September 2001 zusammengesetzt war. Aber viele der Al-Qaida-Führer, die gefasst oder getötet worden sind, wurden ersetzt. Al-Qaida hat sich verändert: von einer hierarchischen zu einer weit verstreuten Organisation mit regionalen Ablegern. Und diese haben in den letzten 32 Monaten mehr terroristische Anschläge verübt als al-Qaida in den drei Jahren vor dem 11. September. Wir hatten also überhaupt keinen Erfolg.

Warum? Liegt das nur an dem Irakkrieg? Oder gibt es ein grundsätzliches Problem bei der militärischen Bekämpfung der al-Qaida?

Ich denke, der Grund, warum wir nicht erfolgreich sind, liegt auch an den abgezweigten Mitteln für den Irakkrieg. Aber das ist nicht alles. Teil des Problems ist, dass wir dies als einen Kampf gegen „den Terrorismus“ betrachten. Terrorismus ist aber eine Taktik. Es geht um den Kampf gegen eine Minderheitensekte des Islam, die Dschihadisten, die den Islam pervertieren. Sagt man einfach, wir bekämpfen Terroristen, klingt es wie etwas, was man mit dem Militär machen kann. Sagt man aber, wir kämpfen gegen eine religiöse Sekte, eine religiös verankerte Bewegung, dann beginnt das Nachdenken darüber, ob es nicht mehr braucht als Militär und Polizei.

Zum Beispiel?

Vielleicht muss man ihre Ideen bekämpfen. Im Kalten Krieg war es nicht nur entscheidend, dass der Westen ökonomisch und militärisch stärker war. Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen, weil seine Ideen attraktiver waren als die der Kommunisten. Wir werden nicht erfolgreich sein, bis wir jemanden finden, der ein ideologisches Gegengewicht anbietet gegen das was in radikalen Moscheen und Koran-Schulen gepredigt wird.

Und wer könnte dazu etwas beitragen? Die Europäische Union?

Ich denke, die Europäische Union ist derzeit wahrscheinlich in einer besseren Position als die Vereinigten Staaten, um diese Art von Dialog voranzutreiben, weil die USA so unbeliebt geworden ist – durch den Irakkrieg und noch mehr durch die Bilder aus Abu Ghraib.

Was halten Sie von der Einschätzung des IISS, des Internationalen Instituts für Strategische Studien in London, dass es weltweit 18.000 potenzielle Kämpfer der al-Qaida gibt? Ist das realistisch?

Ich kenne den Bericht. Ich habe aber ein Problem mit den Zahlen, weil ich nicht überzeugt bin, dass es eine gute Methode gibt, um die Zahl wirklich zu erfassen ist. Aber in einem anderen Punkt stimme ich mit dem IISS überein: Heute gibt es mehr Leute in dem Dschihadisten-Netzwerk als vor einem Jahr. Die Zahlen sind gestiegen.

Und damit auch die Wahrscheinlichkeit weiterer Anschläge?

Natürlich. Wir kennen aber die Motive der Dschihadisten nicht gut genug, um zu wissen, ob sie oder ob sie nicht angreifen werden – besonders jetzt, da sich das Netzwerk in kleine Gruppen auflöst.

Was können wir überhaupt über Struktur und Motive sagen?

Wenn Sie die Geschichte von al-Qaida betrachten, sehen Sie Folgendes: Al-Qaida hat sich in der Welt umgeschaut und fand einige Länder, in denen es kleine terroristische Gruppen gab. Sie haben denen geholfen, stärker zu werden. Sie haben sie trainiert, ihnen Geld gegeben und sie ideologisch geschult. In anderen Ländern gab es keine Gruppen. Dort haben sie welche aufgebaut. Dieses gesamte Netzwerk von alten und neuen Gruppen machte al-Qaida aus. Nach dem 11. September, als die USA gemeinsam mit ihren Verbündeten Afghanistan einnahmen, wurde diese Organisation zu einem gewissen Maß enthauptet. Doch das Netzwerk war so strukturiert, auch wenn der Kopf abgeschlagen wird, dass die einzelnen Teile weiter funktionieren. Vor den Anschlägen vom 11. September hatte al-Qaida viele Jahre damit verbracht, seine Franchise-Partner stark zu machen. Und sie waren schon im September 2001 stark genug, um autonom zu agieren. Und sie sind immer noch dazu fähig.

Bedeutet das, die Festnahme von Bin Laden würde keinen Unterschied machen?

Bin Laden jetzt festzunehmen würde real nichts ändern. Es wäre symbolisch, hätte aber keine taktischen Konsequenzen. Alles was Bin Laden ausmacht, ist symbolisch. Und er könnte diese Rolle tot genauso spielen, wie er es lebendig tut.

Nehmen wir an, John Kerry wird im November zum nächsten US-Präsident gewählt. Sie haben gesagt, dass Sie auch in einer Kerry-Regierung keinen Posten mehr übernehmen würden. Trotzdem: Was würden Sie Präsident Kerry raten?

Drei Dinge. Erstens: Verlassen Sie Irak so schnell wie es zu verantworten ist. Zweitens: Wiederbeleben Sie den arabisch-israelischen Friedensprozess. Drittens: Finden Sie einen Weg das ideologische Problem anzupacken, so dass wir nicht nur hinter den Terroristen herlaufen, sondern uns auch ihrer Philosophie entgegenstellen. Irgendjemand muss dies tun. Wenn ich dann gefragt würde, wie das gehen soll, wäre meine Antwort: Ich weiß es nicht.

INTERVIEW: ERIC CHAUVISTRÉ