Überraschende Mutation zur Bergziege

Rolf Aldag, altgedienter Radprofi beim Team Telekom, musste auf der ersten Alpenetappe am Samstag nur den Franzosen Richard Virenque ziehen lassen und fand sich unversehens im Kreis der Kletterspezialisten wieder

MORZINE taz ■ Die Wirtin der Frühstückspension Beau Regard hatte Mühe, genügend Klappstühle für die vielen Besucher beizubringen, die am Samstagabend ihren schattigen Garten an den Hängen des Bergferiendorfs Morzine heimsuchten. In dutzenden waren die Reporter angerückt, um dem Team Telekom, das zwischen den beiden schweren Alpenetappen des Wochenendes hier Quartier bezogen hatte, ihre Aufwartung zu machen. Teamchef Walter Godefroot wusste, wem der Andrang galt, und als Rolf Aldag, mit einem bösem Sonnenbrand auf Gesicht und Nacken, aus dem Haus trat, räumte er ohne Umschweife seinen Platz für den Mann des Tages.

Aldag selbst war das Aufhebens um seine Person indes nicht ganz geheuer. So wie es ihm unangenehm war, dass er nach seinem couragierten Ritt über fünf Alpengipfel und seinem zweiten Etappenplatz hinter Richard Virenque das rot gepunktete Trikot des besten Bergfahrers übergestreift bekam, weil der eigentliche Inhaber, Virenque, ja schon ins gelbe Leibchen des Tour-Spitzenreiters geschlüpft war. „Ich werde eine Jacke drüberziehen, auch wenn es 40 Grad hat“, sagte er. „Ich fahr doch nicht im Bergtrikot nach L’Alpe d’Huez rauf.“ Tat er dann gestern natürlich doch, aber als Bergfahrer versteht sich Aldag wahrlich nicht, auch wenn er auf der ersten Bergetappe nur den Kletterspezialisten Virenque ziehen lassen musste: „Ich habe bei jedem Anstieg gemerkt, dass die Berge nicht mein Metier sind. Aber wenn man nun mal vorne ist, muss man halt auch fahren.“ Vor allem jedoch ist Aldag es nicht gewohnt, im Rampenlicht zu stehen.

Rolf Aldag hat sich vor langer Zeit entschieden, seinen Sport in dienender und nicht in leitender Funktion auszuüben. In den Jahren, in denen sich das Team Telekom formierte, wurde ihm schnell klar, dass die Siegfahrer andere waren, und so entschied er sich, lieber ein wichtiger Teil einer guten Mannschaft zu sein als ein zwar überdurchschnittlicher, aber eben nicht überragender Einzelfahrer. Jetzt, mit 33 Jahren, nach zehn Jahren als Helfer, muss er plötzlich wieder umlernen: Nach der Demise von Jan Ullrich hat Teamchef Godefroot die taktische Ausrichtung des Teams geändert und fordert von seinen Fahrern nicht mehr Disziplin und Unterordnung, sondern Inititiative und Angriffslust.

Das fällt Aldag nicht ganz leicht. Einerseits. Andererseits hat er als guter Helfer gelernt, taktische Konzepte umzusetzen, und so gelingt es ihm auch, seine neue Rolle vorbildlich zu interpretieren. Die Ankündigungen der Teamleitung, man wolle bei der Tour de France Unruhe stiften, auffallen und Lance Armstrong verunsichern, hat bislang jedenfalls nur der Mann aus Neubeckum wahr gemacht. „Rolf war super, Winokurow war gut, Guerini und Klöden angeschlagen und der Rest war einfach schlecht“, lautete Walter Godefroots schlichte Bilanz der Samstagsetappe von Lyon nach Morzine, die auch das Tour-Aus für die Sprintspezialisten Petacchi, Kirsipuu und Pollack brachte. Bei Telekom enttäuschte vor allem Santiago Botero. Der Kolumbianer, Vierter der Tour 2002, verlor am Anstieg zum Col de la Ramaz den Anschluss und kam mit zehn Minuten Rückstand ins Ziel.

So hat das Team Telekom keinen wirklichen Kapitän mehr bei dieser Tour. Vom Kasachen Alexander Winokurow einmal abgesehen, dessen Ankündigung, mindestens unter die ersten drei der Tour zu fahren, jedoch selbst sein Teamchef Walter Godefroot für etwas zu vollmundig hält. In das Machtvakuum kann und will auch Rolf Aldag nicht stoßen. Der zweite Platz am Samstag ist nicht der Beginn einer späten Solokarriere, das weiß er. „Ich war nun mal in der Fluchtgruppe und hatte deshalb die Verantwortung für das Tagesergebnis unserer Mannschaft“, erklärt er, warum er in Morzine so zäh um den Tagessieg und dann um eine vordere Platzierung kämpfte.

Aldag tat, was er schon immer getan hat: das Beste für das Team. Dass ihm das einen zweiten Platz bei einer Tour-Etappe, vorübergehend den dritten Rang in der Gesamtwertung sowie für einen Tag das Bergtrikot bescherte, amüsiert ihn: „Jetzt kann ich ja Armstrong angreifen“, witzelte er über seinen dritten Platz im Klassement. Die realistische Einschätzung seiner eigenen Möglichkeiten hat auch ein schöner Tag in den Alpen nicht getrübt. SEBASTIAN MOLL