: Die Stunde des Kopisten
Das Gespenst der Darstellung mit präzise bearbeiteten Bildern besiegen: Der britische Maler Richard Hamilton gilt als Vater der Pop-Art. Das Kölner Museum Ludwig zeigt ihn als hochaktuellen Analytiker medialer Images
von HARALD FRICKE
Wenn es um Begriffe geht, ist Richard Hamilton gewissenhaft. Natürlich hätte man seine jetzt im Kölner Museum Ludwig eröffnete Austellung eine Retrospektive nennen können, meint er beim Termin mit der Presse. Schließlich sei der Zeitraum von den Vierzigerjahren bis in die Gegenwart, gemessen an seiner künstlerischen Vita, passend gewählt. Aber dann habe er noch einmal darüber nachgedacht und festgestellt, dass ein Rückblick auch wieder nicht weit genug in die Vergangenheit reichen würde: Mit dem Leben beschäftige er sich ja schon seit dem zweiten Lebensjahr. Daran habe sich im Alter nichts geändert, deshalb sei ihm „Introspective“ als Titel lieber gewesen – weil die existenziellen Probleme, solange er lebe, nicht einfach irgendwann aufhören würden und weil die Arbeit immer weiter gemacht werden müsse. Aufmerksam schaut der 1922 geborene Hamilton in die Runde, aber niemand scheint den Witz zu verstehen. So ist das eben mit britischem Humor.
Schwanengesang
Vermutlich weiß nicht nur Hamilton, dass die umfangreiche Ausstellung in Köln eine der letzten sein wird, die ihm zu Lebzeiten gewidmet ist. Vor fünf Jahren hatte er eine schwere Herzoperation, da macht man für die Zukunft keine allzu großen Pläne mehr. Zumal es einige Zeit gedauert hat, bis sich „Introspective“ mit 180 Gemälden, Zeichnungen, Fotografien, Collagen, Designentwürfen und drei Environmenträumen überhaupt realisieren ließ. Immerhin wurde Jochen Poetter, auf den das Projekt zurückgeht, in Köln schon vor drei Jahren als Direktor des Hauses abgesetzt. Sein Nachfolger Kasper König erzählt wiederum, dass er gern Peter Ludwig zur Eröffnung begrüßt hätte, weil der Sammler schon früh wichtige Arbeiten von Hamilton für das Museum gekauft hat, fast so viele wie die Londoner Tate Gallery. Aber Ludwig ist 1996 gestorben – „er war übrigens fast der gleiche Jahrgang wie Hamilton“, erinnert sich König und versucht dabei, nicht allzu wehmütig zu klingen, denn seine Einführung soll kein Schwanengesang werden.
Besser schon ist der Hinweis, mit Hamilton werde nach Jasper Johns, Roy Lichtenstein, Robert Rauschenberg und Andy Warhol einer der wichtigsten Vertreter der Sechzigerjahre-Kunst im Ludwig-Museum gezeigt. Aber gehört der Brite in die Linie der Pop-Art? Die Geschichte meint Ja, Hamilton hält es lieber mit einem Jein. Oder mit einem Nein, trotz alledem. Trotz seiner Beteiligung an der Ausstellung „This is Tomorrow“, für die er 1956 sein „Fun House“ als Kombination aus Kino, Fernsehen, Science-Fiction-Comic-Wänden und Karaoke-Box entwarf. Trotz seiner zur Legende gewordenen Collage aus dem selben Jahr, auf der ein Bodybuilder mit einem Tennisschläger posiert, dessen Schutzhülle in gelben Lettern mit „POP“ beschrieben ist. Trotz kitschgestählter Blumensiebdrucke aus den frühen Siebzigern, trotz der Covergestaltung für das „Weiße Album“ der Beatles und trotz seiner Bekanntschaft mit Mick Jagger, den er nach einer Razzia in Handschellen porträtierte, als Opfer der repressiven Drogenpolitik im England der angeblich cool swingenden Sixties.
Hamilton hat sich gegen die Festlegung auf Pop entschieden against all odds. Für ihn sind der süße Glanz der Oberfläche, die Hysterie um Populärkultur, Massenmedien und Glamour immer Symptome für das eigentliche Problem geblieben: Ein Gespenst geht um in der Kunst seit der Nachkriegszeit, das Gespenst der Darstellung. Wie soll sich Wirklichkeit abbilden lassen, wenn diese Wirklichkeit selbst ein Konstrukt aus den Bildern ist, die Kino, Fernsehen, Magazine oder Werbung liefern? Die Frage mag in Zeiten von Reality-Soaps und allgegenwärtigem „Imagineering“ (Tom Holert) ein wenig rückständig, längst ausdekonstruiert, wenn nicht – Schwamm drüber, Adorno drauf – ganz erledigt scheinen; für Hamiltons Einstieg in die Kunst der Fünfzigerjahre waren solcherlei Bedenken jedoch ungeheuer modern.
Einen Lösungsvorschlag findet er – wie nach ihm noch so viele – bei Marcel Duchamp. Das Readymade, diese good old Eselsbrücke zwischen Sein und Schein, wird von Hamilton bereits 1948 einer Überprüfung unterzogen. Er liest genau an Stellen nach, wo Duchamp in seinen Schriften „readymade“ von „readyfound“ unterscheidet, und er nimmt dessen Zusatz ernst: „The separation is an operation.“. Das Ergebnis ist im Entrée der Ausstellung zu sehen, eine Serie mit zarten Radierungen, auf denen ein auseinander geschraubter Mähdrescher der Junggesellenmaschine Duchamps verblüffend ähnlich sieht. Später wird Hamilton Teile aus dem „Großen Glas“ oder Duchamps Rotoreliefs nachbilden und dessen in Sequenzen zersplitterte Frauenakte neu interpretieren – indem er sie mit dem Design von Autos kreuzt. Verführerisch zwinkert auf „Hommage à Chrysler Corp.“ (1957) ein Scheinwerfer neben der Stoßstange, während für den Kotflügel eine Frau mit beträchtlicher Oberweite Modell gestanden haben muss. Stets ist die „glorious techniculture“ bei Hamilton ein Ausdruck des elan vital, selbst im grob skizzierten „Toastuum“-Toaster aus dem Jahr 1958 schimmert noch der Torso des Apoll nach.
Tatsächlich geht es nicht darum, die Existenz massenproduzierter Güter im künstlerischen Abbild zu verdoppeln. Viel mehr setzt sich Hamilton mit den formalen Konsequenzen auseinander, die eine Welt aus Waren für die Wahrnehmung von Kunst hat. Auch Pop-Art war zuallererst eine strategische Verbindung, für die sich die Kunst als Spiegel der Gesellschaft mit Alltagsbildern munitionierte – wo aber verläuft die Grenze, die Produkt und Kunstwerk trennt?
Für Hamilton fangen die Differenzen bei der Bildbearbeitung an. Nicht von ungefähr bezeichnet er sich als „painter“ und als „printmaker“: Während auf Reklamefotos sonst Unebenheiten retuschiert werden, benutzt Hamilton die Bilder der Werbung, um künstlerische Unschärfen in sie hineinzukopieren. Seine „Still-life studies“ mitte der Sechzigerjahre zeigen die perfekt gestalteten Gebrauchsgegenstände von Braun, die vom Chassis bis zum Schriftzug eine Sonderstellung im Industriedesign einnahmen. Hamilton achtet auf das Setting, in dem Zahnbürsten, Toaster und Steroanlagen präsentiert werden. Hier greift er ein, legt mit Fotofarbe einen sanften Schleier über die Aufnahmen und schafft so einen jenseits der Vermarktung definierten Freiraum, in dem sich das Objekt unter künstlerischen Bedingungen bewähren soll, losgelöst von den Werbevorgaben eines auf Konsum starrenden Haushaltsambientes. Zudem wandelt er den Markennamen leicht ab: Braun wird zu „BROWN“ – das Produkt wird dem System der Kunst einverleibt, ohne dass die Kunst sich im Gegenzug der Gestaltung anschmiegt. Damit verschiebt sich aber auch die Funktion des Bildes: Es ist abstrakt, konzeptuell und gegenständlich, in einer, wie Hamilton sagt, „Totallandschaft“ aus visuellen Reizen.
Am Tisch mit Mondrian
Wo Pop-Art bewusst auf Trivialisierung der Bildinhalte setzt, lädt Hamilton die Banalität des Dargestellten mit Referenzen auf. Ein Tisch ist ein Tisch, aber der gemalte Raum, in dem er steht, könnte auch einem Mondrian-Gemälde entlehnt sein. Dieser Trick führt zu wunderbaren „Interiors“, auf denen Filmstars wie Rita Hayworth über expressionistische Muster flanieren, die Wände mit Schnipseln aus der Kunstgeschichte von Goya bis Picasso vollgehängt. Mit der Schere zitiert Hamilton sich durch Gemäldegalerien und Museen, lange vor Erfindung des Photoshop-Programms.
Dabei ist die Engführung keine Parodie, eher eine Revision der Ikonen, deren zeitlose Gültigkeit gerade innerhalb der Kunstproduktion auf die Probe gestellt wird. So wie sich Picasso auf Goyas „Die Erschießung der Aufständischen“ als Beispiel politisch engagierter Malerei berufen konnte, zeigen Hamiltons „Interiors“, dass Wahrnehmung von Kunst überhaupt an kulturelle Rahmenhandlungen gebunden ist. Jeder individuelle Stil baut letztlich auf bereits vorhandenen Erfahrungen mit Bildern und dem über Bilder vermittelten Wissen auf – egal ob Cézanne, Barnett Newman, „Chanel“-Fashion oder „Andrex“-Toilettenpapier, das Hamilton für seine „Soft pink landscapes“ 1972 rollenweise auf impressionistische Waldlichtungen drapiert hat.
Dieser gezielt gleichgültige Umgang mit Sujets hat allerdings auch dazu geführt, dass Hamilton lange Zeit nicht in den Rang eines international hofierten Künstlers gehoben wurde. Es mag eine besondere Signatur sein, keine eindeutig festgelegte künstlerische Handschrift zu haben, doch dem Geschäft auf dem um eigensinnige Stars zirkulierenden Markt der Sechziger- und Siebzigerjahre war diese Haltung nicht zuträglich. Der größte Teil der frühen Werke Hamiltons befindet sich in private collections, Museumsankäufe sind Ausnahmen geblieben. Bei seiner ersten Ausstellung in der Londoner Tate Gallery war er 48 Jahre alt, auf der documenta IV wurde er 1968 in Kassel unter „Grafik“ verbucht, und als er 1993 im britischen Pavillon auf der Biennale in Venedig gezeigt wurde, hatte er die 70 bereits überschritten. Dass er heute oft als „Vater der Pop-Art“ firmiert, ist für Hamilton weniger eine Ehre als ein Missverständnis in der Auseinandersetzung mit seiner Arbeit, bei der es nie um Aufwertung, sehr wohl aber um eine kritische Auswertung der alltäglichen Bildermassen ging.
Vom Pop zur Präzision
Vielleicht kann die Kölner Ausstellung diese Schieflage korrigieren, zeigt sie doch in dichten Werkblöcken, wie Hamilton über Jahrzehnte an bestimmten Fragestellungen festhielt. So illustriert er seit 1948 immer wieder Szenen des „Ulysses“, weil er an James Joyce die Einfühlung schätzt, mit der der Schriftsteller von Kapitel zu Kapitel seinen Stil je nach Personage wechselt. Nicht aus Beliebigkeit, sondern wegen der für das Geschehen notwendigen erzählerischen Präzision. Am meisten sticht jedoch schon wegen der altarartigen Präsentation ein Triptychon zum Nordirlandkonflikt heraus, das Hamilton 1982 begann, ständig variierte und erst acht Jahre später fertigstellen konnte. Es ist sein Kommentar zur Situation der IRA-Gefangenen, die 1980 in Hungerstreiks eskalierte. Jedes Detail wurde sorgfältig anhand von Fotos und Fernsehbildern recherchiert, bevor Hamilton die Szenen mit paradierenden Orange-Männern, britischen Troopers und den verwahrlosten Häftlingen in ihren kotverschmierten Zellen zusammenfügte. Dabei ist eine Art Historienmalerei entstanden, die ihre medialen Quellen offenlegt und zugleich zeigt, dass der subjektive Zugriff den Dokumenten eine politische Dimension gibt. Es ist die Stunde des Kopisten.
Hamilton fragt nicht spitzfindig nach Fakt noch Fiktion, er sucht als Maler sein eigenes Engagement angesichts der umgebenden Wirklichkeitsbilder. Das zumindest hat er mit den heute am Computer geschulten neuen Realisten gemeinsam: Hamilton als Großvater, oder besser „Godfather“ jener Malerei, wie sie 2003 in Leipzig, Berlin, London und New York überaus erfolgreich produziert wird? Auch damit wird er leben können, das gehört mit 81 Jahren zur Routine. Hoffentlich noch sehr, sehr lange.
Bis 9. 11., Museum Ludwig, Köln. Katalog: 16 €.