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Archiv-Artikel

Er hat den Dreh raus

Axel Stüber stellt Drehorgeln her und knüpft damit an eine Tradition an: Berlin galt bis zum Zweiten Weltkrieg als Zentrum des Drehorgelbaus

DIE DREHORGELBAUER-DYNASTIE

Giovanni Battista Bacigalupo wurde 1847 im italienischen Modena geboren. Die Familie war arm, und der Junge ging bereits als Zehnjähriger nach London und Paris, wo er das Bauen von Drehorgeln lernte. 1873 kam Bacigalupo nach Berlin. Im Prenzlauer Berg bestand damals eine lebendige italienische Kolonie. Gemeinsam mit seinem Partner Chiaro Frati gründete Bacigalupo dort die Firma Frati & Co. Sie stellte Drehorgeln her – für anfangs meist ebenfalls italienische Drehorgelspieler, die über die Hinterhöfe der Mietskasernen zogen. Um 1900 beschäftigte die Fabrik rund 70 Mitarbeiter. Söhne, Enkel, Neffen der Bacigalupos eröffneten weitere Werkstätten. Sie produzierten bis zum Zweiten Weltkrieg Tür an Tür in der Schönhauser Allee 73, 74a, 78 und 79. Der Krieg beendete die Zeit des Drehorgelbaus, ein Teil der Familie wanderte in die USA aus. Giacomo Giovanni Bacigalupo, letzter Nachkomme, führte noch bis 1975 in der Schönhauser Allee 79 Reparaturen durch. Er starb 1978 mit 86 Jahren. JS

AUS MEXIKO-STADT UND BERLIN JULIANE SCHUMACHER

In den Bergen ist es ruhig, deshalb sind die Drehorgeln aus Süddeutschland melodischer, leiser. Die echten Berliner Drehorgeln hingegen spielen ihre Melodien dröhnend laut, sie sind wie gemacht für Straßenlärm und Menschengewühl. Straßenlärm gibt es eine Menge im Zentrum von Mexiko-Stadt, und Menschen drängen in Massen am kolonialen Fliesenpalast vorbei, vor dem Moises Rosas mit seiner Drehorgel steht: Traveller mit schwankenden Rucksäcken, Geschäftsmänner im dunklen Anzug, fliegende Händler, indigene Frauen, die ihre Kinder in gewebten Tüchern auf den Rücken gebunden haben.

Die schwere Drehorgel, die Rosas, auf einen Holzstab gestützt, unermüdlich dreht, übertönt alle mühelos. Mehr als 100 Jahre alt, erzählt Rosas, sei die Orgel, mit der er seit über zehn Jahren seinen Lebensunterhalt verdient. Und natürlich sei sie eine „echte“ – aus Berlin. Er zeigt auf das Holz, das über die Jahre dunkel geworden ist: „Frati & Co.“ ist dort zu lesen, „Schoenhauser Allee 73, Berlin“.

Berlin war über Jahrzehnte weltweit das Zentrum des Drehorgelbaus; seit Giovanni Battista Bacigalupo, ein italienischer Orgelbauer, im Jahr 1873 nach Berlin kam und dort die Firma Frati & Co. gründete. Eine ganze Dynastie von Drehorgelbauern ging daraus hervor. Bis zum Zweiten Weltkrieg eroberten die Drehorgeln der Bacigalupos von Berlin aus die Welt; mit ihnen zogen die Bettler durch Moskau, Paris, New York.

In Berlin waren noch Anfang der 1930er-Jahre rund 800 Drehorgelspieler zugelassen. Die Genehmigung für das Spielen wurde seit dem Kaiserreich häufig statt einer Pension an Kriegsinvalide vergeben. Die Instrumente gehörten den Spielern nur selten. Sie musste sie, oft überteuert, von Geschäftsmännern und Gastwirten leihen, mit denen sie am Abend ihren Verdienst zu teilen hatten. Die Nazis verboten dann das Betteln, und nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten die berühmten Bacigalupos in Vergessenheit. Als der Letzte der Dynastie – Giacomo Giovanni Bacigalupo – 1978 starb, widmete ihm der Spiegel noch einen Nachruf. Doch für Drehorgeln interessierte sich zu dieser Zeit niemand mehr – zumindest im Osten Deutschlands, wo die Bacigalupos bis zuletzt gelebt hatten.

Im Westen kam zu dieser Zeit bereits wieder Nostalgie auf – die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, dem Authentischen, Handgemachten. Und dieser Nostalgie – die später auch den Osten ergriff – ist es zu verdanken, dass es heute wieder einen Drehorgelbauer in Berlin gibt. Die Werkstatt von Axel Stüber liegt im Untergeschoss seines weiß gestrichenen Einfamilienhauses im beschaulichen Biesdorf, seit 1995; zuvor hat er in Friedrichshain produziert. An den Wänden hinter den Werkbänken hängen, sorgfältig sortiert, unzählige Sägen, Zangen, Klemmen; in Kästen warten Bambuspfeifen verschiedenster Größe auf ihren Platz im Orgelkasten.

Stüber, heute 54, lernte ursprünglich Kirchenorgelbau, 1977 hat er sich selbstständig gemacht. Zwei Jahre zuvor hatte der letzte Bacigalupo-Sprössling hochbetagt seine Werkstatt geschlossen, und weil Stüber somit der letzte Orgelbauer in Ostberlin war, kamen immer wieder Leute zu ihm, um ihre alten Drehorgeln reparieren zu lassen. Damals habe er, wie er es ausdrückt, „einen Narren an den Dingern gefressen“.

Als 1987 die 750-Jahr-Feier Berlins anstand, erhielt er vom damaligen Magistrat den Auftrag, für die Festlichkeiten eine Reihe Drehorgeln im alten Stil zu fertigen. Stüber erfand sozusagen die Berliner Drehorgel neu und begann sie in Serie zu produzieren. Das lief gut – so gut, dass er den Bau von Kirchenorgeln in den 1990ern einstellte und sich seither ganz den Drehorgeln verschrieben hat. „Wenn man eine Kirchenorgel baut, gibt es immer Sachverständige, die einem vorschreiben, wie die Orgel zu klingen, auszusehen hat“, sagt er. „Bei den Drehorgeln bin ich frei, ich kann selbst gestalten, meine Ideen ausprobieren.“

Heute fertigt Stüber mehrere Dutzend Orgeln im Jahr. Etwa die Hälfte der Aufträge kommt aus dem Ausland, aus Neuseeland, Korea, Mexiko, den USA. In 31 Länder hat er seine Orgeln schon verkauft. Bis zu 400 Stunden bauen er und seine zwei Mitarbeiter an einem Stück, schmirgeln, feilen, kleben.

Es ist eine leise, konzentrierte Arbeit. Durch die schmalen Fenster der Werkstatt fällt das winterliche Licht, es riecht nach Holzspänen. Abgedeckt mit Tüchern, warten zwei alte Orgeln am Ende des Raumes auf ihre Reparatur. Reparatur und Restaurierung alter Orgel spielen in Stübers Betrieb in letzter Zeit wieder zunehmend eine Rolle. „Die Drehorgeln“, meint er, „halten einfach zu lang.“ 100, auch 150 Jahre könne man eine gute Orgel benutzen; wer sich für mehrere tausend Euro eine kauft, schafft sich sobald keine neue an. Und so ist Stüber auch ganz froh, der einzige Drehorgelbauer in Berlin zu sein. Fünf gibt es in Deutschland, alles kleine Betriebe, wie er sagt. Von welchem eine Orgel stamme, das könne er auf hundert Meter Entfernung hören. Man kennt sich und seine Orgeln in der „Szene“.

Wie aktiv diese „Szene“ ist, das lässt sich in Stübers Büro leicht nachvollziehen. Hier stehen die fertigen Orgeln, verziert mit Einlegearbeiten und Blumenmustern, auf ihren Wagen bereit zum Verkauf oder Verleih. Bei Familienfeiern und Hochzeiten sind Drehorgeln beliebt; an manchen Wochenenden, erzählt Stüber, verleihe er 15 zugleich. Hinter den Orgeln lagern in hohen Regalen die Musikrollen mit den Stücken: Händel, Paganini, die Musik von Dr. Schiwago. Sieben bis zehn Minuten passen auf eine Rolle. „Musikstücke für Drehorgeln umzuschreiben ist eine Kunst“, erklärt Stüber. Denn eine Drehorgel hat viel weniger Töne als etwa ein Klavier. Es gilt, die Melodien derart zu transponieren, dass der Hörer glaubt, es seien alle Töne da.

Die Wände des Raums sind mit Plakaten tapeziert, sie werben für Treffen und Festivals von Drehorgelfreunden, in Deutschland, Italien, der Schweiz. Allein in Berlin gibt es drei Vereine, die sich mit dem Instrument beschäftigen, zusammen haben sie mehr als 1.500 Mitglieder. Auch Stüber ist fast jedes Wochenende unterwegs, bei Veranstaltungen auf Marktplätzen, Festivals oder Fachtreffen. Die Drehorgel, schwärmt er, bringe Leute zusammen, die sich sonst kaum einmal über den Weg laufen würden: Tierärzte, Theologen, Lehrer musizieren gemeinsam mit hauptberuflichen Straßenmusikern.

Auch Letztere gehören seit Neuestem wieder zu Stübers Kunden, und das, meint der Orgelbauer, habe ihn fast ein wenig erschreckt. Ein Bekannter, den er von Treffen der Drehorgelfreunde kannte, hat sich, nachdem er lange Hartz IV bezogen hatte, eine Drehorgel gekauft und selbstständig gemacht. Acht Stunden und mehr spielt er heute an verschiedenen Orten in Berlin – davon kann er leben. Gerade hat er bei Stüber eine zweite Orgel als Ersatzinstrument bestellt.

Ein neues Berliner Instrument könnte sich Rosas, der Orgelspieler aus Mexiko-Stadt, nicht leisten. Und auch seine alte Berliner Orgel gehört nicht ihm. Wie einst die Musiker im Berlin der 1920er-Jahre leiht er sie von einem Geschäftsmann. 160 Pesos am Tag zahlt er, um sie zu benutzen, etwa 10 Euro. Dafür darf er sie mit nach Hause nehmen; er kann spielen, wann und wo er will.

Schließlich ist Orgel spielen für ihn nicht nur ein Job, sondern eine Familientradition: Sein Schwiegervater ist einer der ältesten Orgelspieler von Mexiko-Stadt, auch seine Frau, seine Neffen und Kinder verdienen ihr Geld mit dem Instrument. „Orgelspieler zu sein ist für mich eine Ehre, Teil einer alten Tradition“, sagt er.