: Labour verliert den Faden
AUS BRADFORD RALF SOTSCHECK
An der Bushaltestelle in der Oak Lane hängt ein Reklameplakat für die „Islamophobia Awards“. Am Samstag soll der islamophobischste britische Politiker des Jahres gewählt werden. Es soll ein „lustiger Abend mit Musik und Kabarett“ werden, verspricht das Plakat. Die Veranstaltung wird gut besucht sein, denn in der Oak Lane in Manningham, einem Stadtteil des nordenglischen Bradford, leben fast nur Muslime. Die Straße ist lang, sie steigt vom Lister Park zur Innenstadt hin steil an. In den kleinen Bekleidungsgeschäften wie Andaaz Textiles hängen bunte Saris, nebenan verkauft ein Metzger Halal-Fleisch.
Die für Bradford typischen Häuserzeilen aus hellbraunem Naturstein sind immer wieder von Brachflächen unterbrochen. „Da drüben“, sagt Mahmood Kumar und zeigt auf den leeren Platz zwischen zwei Seitenstraßen, „stand früher ein BMW-Autosalon. Bei den Krawallen vor drei Jahren ist er völlig zerstört worden.“
Im Sommer 2001 war es zu den schwersten Unruhen in Großbritannien seit 20 Jahren gekommen. Rund 200 asiatische Jugendliche griffen die Polizei mit Ziegelsteinen, Flaschen und Brandbomben an, 120 Beamte wurden verletzt. Tausend Polizisten brauchten neun Stunden, um für Ruhe zu sorgen.
Kumar, ein junger Mann mit Turnschuhen und grauem Anzug, war damals erst 15 und hatte gerade die Schule abgebrochen. Heute ist er arbeitslos, hilft aber manchmal in der Imbissbude seines Bruders. „Die Neonazis waren schuld“, sagt er. „Sie wollten in Bradford demonstrieren und sind in unser Viertel gestürmt.“ Kunar glaubt, dass es wieder zu Krawallen kommen wird, wenn die Rechten bei den Wahlen am Donnerstag Sitze gewinnen sollten.
Die British National Party (BNP) spielt wie stets die ausländerfeindliche Karte und rechnet sich damit bei den morgigen Europa- und Kommunalwahlen in Bradford und anderen Städten mit hohem muslimischem Bevölkerungsanteil gute Chancen aus.
Nirgendwo in Großbritannien ist der moslimische Anteil an der Bevölkerung höher als in Bradford: Über 75.000 der 470.000 Einwohner sind Muslime. Mehr als 50.000 sind pakistanischer Herkunft. Außerdem leben hier Sikhs und Hindus aus der indischen Provinz Gujarat und aus dem Punjab. Kein Wunder, dass Bradford 1985 als erste britische Stadt mit Mohammed Ajeeb einen muslimischen Bürgermeister hatte. Seit vorigem Jahr regiert eine Tory-Minderheit mit Duldung der Liberalen Demokraten.
Narinder Kaur glaubt, dass es in der Oak Lane auch dann zu Krawallen kommen wird, wenn Tony Blairs Labour Party morgen gut abschneiden sollte. „Das würde die asiatische Bevölkerung schwer erschüttern“, sagt sie. „Seit dem Krieg ist die Regierung bei ihnen unten durch. Viele werden zu den Liberalen umschwenken, andere werden gar nicht wählen.“ Sie selbst auch nicht. „Wozu auch“, sagt sie. „Vielleicht mache ich den Stimmzettel ungültig.“
Kaur ist Mitte 30 und arbeitet als freie Reporterin beim Bradford Community Broadcasting, einem Lokalradio, das auch in Urdu, Punjabi und anderen asiatischen Sprachen sendet. Sie ist in England geboren, ihre Eltern sind vor mehr als 40 Jahren aus Indien eingewandert.
Damals, Ende der Fünfzigerjahre, hatten die Besitzer der blühenden Bradforder Textilfabriken in Indien und Pakistan Arbeitskräfte angeworben. Viele Immigranten kamen aus der Mirpur-Region, wo ganze Dörfer nach dem Bau des Mangla-Staudamms in den Fluten versunken waren. Von der Entschädigung kauften sich viele eine einfache Fahrkarte nach Großbritannien.
Die meisten Immigranten hatten für die Hälfte des Lohns in den Spinnereien gearbeitet und deren Überleben dadurch künstlich verlängert. Als die Rezession zuschlug, war endgültig Schluss. Von den großen Zeiten zeugen die Lister Mills am oberen Ende der Oak Lane. In die beiden riesigen Fabrikgebäude sind nun Bauarbeiter eingezogen. Bis zum Herbst sollen 131 Wohnungen, Geschäfte und Büros entstehen.
Nach dem Niedergang der Textilindustrie suchten sich die Immigranten ein neues Betätigungsfeld und eröffneten Restaurants und Geschäfte. 1978 gab es rund 600 asiatische Restaurants und Lebensmittelläden, sechs Jahre später hatte sich die Zahl verdoppelt. Bradford gilt seitdem als „Curry-Hauptstadt Großbritanniens“. Und trotzdem hatte die Islamische Partei hier nie eine Chance. Bei Wahlen kam sie kam nicht über ein, zwei Prozent hinaus. Die meisten Einwanderer wählten bisher Labour – oder gar nicht.
Die Wahlmüdigkeit beschränkt sich freilich nicht auf die Immigranten. Zu den letzten Kommunalwahlen ging gerade mal ein Drittel der Berechtigten. Wenn in England und Wales morgen ein Drittel aller britischen Gemeinderäte neu gewählt werden, wird das nicht anders sein. Auch bei den Europawahlen war Großbritannien in dieser Hinsicht stets das Schlusslicht.
Das bereitet den großen Parteien Kopfschmerzen, denn von einer geringen Wahlbeteiligung profitieren die kleineren Parteien wie die BNP und unabhängige Kandidaten. So wagt die Regierung diesmal ein Experiment: In vier Regionen kann man seine Stimme für Europa und den Gemeinderat ausschließlich per Briefwahl abgeben. Wahllokale gibt es nicht. Das betrifft ein Drittel aller Wähler, insgesamt fast 15 Millionen. Damit die Leute das kapieren, hat sich die Regierung mit Unterstützung der Tories und der Liberalen eine Werbeaktion ausgedacht.
Am unteren Ende der Oak Lane gegenüber vom Eingang zum Lister Park steht ein drei Meter hoher aufblasbarer roter Briefkasten. Vertreter der drei Parteien verteilen Flugblätter, auf denen die Briefwahl erklärt wird. Radhia Tarafder glaubt nicht, dass das viel nützen wird. „Die Regierung hat ihr eigenes Experiment torpediert“, sagt sie. „Sie hat die Stimmzettel viel zu spät herausgeschickt. Außerdem sind sie so kompliziert, dass sie für viele kaum zu verstehen sind.“ Rahia Tarafder versteht etwas davon, im Januar hat sie sich als Medienberaterin selbstständig gemacht. Die 35-Jährige ist in Bradford geboren, ihre Eltern sind in den Sechzigerjahren aus Bangladesch eingewandert. Sie weiß, dass sich unter der asiatischen Bevölkerung ohnehin kaum jemand für die Europawahl interessiert. „Die Leute meinen, es habe nichts mit ihnen zu tun“, sagt sie.
Am meisten stört sie jedoch, dass die Briefwahl sehr leicht missbraucht werden könne. Im Wahllokal gebe es ja wenigstens theoretisch eine geheime Wahl. „Wenn aber die Familie am Küchentisch die Stimmzettel ausfüllt, entscheidet der Mann, was gewählt wird“, sagt Tarafder. „In vielen asiatischen Familien herrscht eine Dorfmentalität wie in Kaschmir.“ Es gehe um Macht, um territoriale Vorherrschaft. In Bradford gebe es mindestens fünf Hussains aus derselben Region, die alle für verschiedene Parteien kandidierten.
Eine davon ist Hawarun Hussain. Sie stammt aus Bangladesh, ist aber in Großbritannien aufgewachsen, was die Eltern nicht davon abhielt, ihre Ehe zu „arrangieren“. Hussain ist 32 Jahre alt, seit 14 Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Für Politik interessiert sie sich erst seit vorigem Jahr, als sie den ersten Stadtverordneten der Grünen kennen lernte. Inzwischen haben die Grünen drei Sitze, sie wollen diese Zahl morgen verdoppeln. „Bei der asiatischen Bevölkerung haben wir allerdings Schwierigkeiten. Viele haben von den Grünen noch nie etwas gehört“, sagt sie. „Ebenso viele werden aber auch nicht mehr Labour wählen.“
Die Muslim Association of Britain hat die Muslime dazu aufgerufen, Labour zu boykottieren und stattdessen Kandidaten zu wählen, die gegen den Krieg eingetreten sind – zum Beispiel die Antikriegspartei „Respect“ des ehemaligen Labour-Abgeordneten George Galloway. Und die BNP? „Sie wird immer stärker“, befürchtet Hussain. Zehn Kandidaten hat die rechte Partei in Bradford aufgestellt, in der Grafschaft Yorkshire sind es sogar 101. „Ich kann nur hoffen, dass es keiner schafft, schon gar nicht in meinem Wahlkreis.“
Es wird schwer werden. Hussain kandidiert im Vorort Keighley. Dort hat die Polizei vor kurzem einen Ring von Männern ausgehoben, der junge Mädchen, manche nicht älter als elf, zur Prostitution gezwungen hat. Der Fernsehsender Channel 4, der eine Dokumentation über den Fall gedreht hat, nahm den Film letzte Woche wieder aus dem Programm, weil die BNP versuchte, ihn für Propagandazwecke zu benutzen.
Die Partei behauptete, dass Immigranten hinter dem Ring steckten. „Diese asiatischen Typen mögen kleine Mädchen, das liegt an ihrer Religion“, sagte BNP-Sprecher Phil Edwards. Die Polizei erklärte hingegen, dass in diese Sache sowohl asiatische als auch weiße Männer verwickelt seien, mit Rasse oder Hautfarbe habe das nichts zu tun. Die Taktik der BNP scheint trotzdem aufzugehen. In Umfragen in Bradford liegt sie bei 16 Prozent. Das würde für zwei Stadträte reichen. Auch bei den Europawahlen könnte sie drei Mandate gewinnen, wenn die Wahlbeteiligung niedrig ist.
„Soll ich dir ein junges weißes Mädchen besorgen?“, fragt Mahmood Kumar und lacht. „Du hast doch sicher gehört, dass wir Muslime auf so was spezialisiert sind.“ Er ist verbittert darüber, dass die BNP versucht, zum Rassenhass aufzustacheln und Angst und Misstrauen zu säen. „Wenn sie damit Erfolg hat, wird es hier auf der Oak Lane nächste Woche hoch hergehen.“