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Archiv-Artikel

Ewiger Kreisel Mensch

Von Ballonlampen, fluoreszierenden Palindromen und rätselhaft in der Ecke lauernden Steinkäuzen: Jan Timme spielt in seiner neuen Installation„Bald fliegt der ganze Schwindel auf“, die derzeit im Kunstverein zu sehen ist, mit Täuschungen aller Art sowie mit Licht und Schatten

Anstelle des Menschen verglimmt gleich der ganze, sorgsam gemalte Spruch

von PETRA SCHELLEN

Man geht vom Tag in die Nacht. Von der gleißenden Hamburger Julihelle ins schweigsame Dunkel des Kunstvereins-Parterres. Hinter geschwärzter Doppeltür verbirgt sich die jüngste Installation Jan Timmes, rätselhaft und leicht performativ an die derzeit laufende Reihe „Bühne 03“ im Obergeschoss angeglichen.

Allein – ob man diese Installation mit dem gleichen Vergnügen im Winter besucht hätte, ist schwer zu sagen. Aber all das kümmert auch nicht angesichts der Tatsache, dass man sich im für 30 Sekunden total verdunkelten Raum wiederfindet. Hager verglüht irgendwo ein grünlicher Schatten an der Wand. Dann, eine halbe Minute später, die Erlösung: Licht erstrahlt aus einer riesigen weißen Ballonlampe links in der Ecke; ansonsten findet man nichts in dem Raum, der alsbald erneuter Verdunkelung anheimfällt. Dafür kann man, jetzt schon ans düstere Höhlen-Dasein gewöhnt, den fluoreszierenden Schriftzug lesen: „Wir irren des Nachts im Kreis umher“, sagt er – und verglimmt. Zu gut lateinisch: „In girum imus nocte“. Den zweiten Teil des berühmten Palindroms – „et consumimur igni“ / „und werden vom Feuer verzehrt“ – zitiert Timme nicht. Stattdessen verzehrt sich die Schrift, verglimmend, sozusagen live.

Analog zum Verglimmen ist der Betrachter, der nichts mehr betrachten kann, wieder allein gelassen in der künstlichen Nacht. Ein Mönch des Mittelalters hat vermutlich das Palindrom – einen vor- und rückwärts lesbaren Satz – erfunden. Das Genre, in der Antike als sprachartistisches Spiel geschätzt, ist vermutlich wesentlich älter und diente einst wohl ritueller Sprachmagie: Die Sprüche wurden auf Weihegefäße geschrieben, die beim Umschreiten in jeder Richtung lesbar sein sollten.

„Mich fesselt, dass dieses Palindrom Form und Inhalt exzellent verbindet, über das bloße Sprachspiel also weit hinausgeht“, sagt Timme, der Spezialist für Täuschungen und das Spiel mit Zeit und Raum ist. Den Vanitas-Gedanken will er nicht bewusst in die Installation eingewoben haben. Und doch zwingt er den Besucher, den Inhalt des Spruchs live zu durchleiden, lässt halb spielerisch, halb ironisch den zweiten Teil des Palindroms, das exzentrische Verglühen im endlich gefundenen Licht, weg, indem er die Buchstaben einfach selbst verglühen lässt.

„Bald fliegt der ganze Schwindel auf“ lautet der Titel des Werks, das zugleich Timmes erste institutionelle Einzelausstellung ist. Ein Werk des 1971 in Stuttgart geborenen Künstlers besitzt der Kunstverein allerdings schon: die spiegelverkehrt an der Fensterscheibe des Treppenaufgangs angebrachte Uhr, die für die Schau „Zusammenhänge herstellen“ geschaffen wurde. Sie ist nicht nur anamorphotisch gestaltet, sondern korrespondiert auch mit Filmstills aus Hitchcocks Vertigo-Uhrszenen. Welche Zeit herrscht wirklich, woran kann man sich orientieren – und lindert es die Täuschung wirklich, wenn man weiß, dass die Uhr spiegelverkehrt angebracht ist? Lässt man sich nicht trotzdem vom bloßen Anschein in die Irre führen?

Und wie kann andererseits der Ausweg aus dem vor- und rückwärtigen Umherirren im Untergeschoss letztlich aussehen? Im Vertrauen darauf, dass man den exakten Weg zurück in der Dunkelheit ohnehin nicht findet und daher irgendwann zufällig zum Licht – der Erkenntnis oder wessen auch immer – finden wird?

Fragen ohne Antwort lässt Timme im Raum schweben, und da hilft auch der ausgestopfte Steinkauz, den man auf dem Rückweg zum Ausgang zufällig in der Ecke bemerkt, nichts: Als ambivalentes Symbol des Todes und der Weisheit gilt das Tier, konsequenterweise im lateinischen Fachjargon athene noctua genannt und – so der Aberglaube – den Wanderer nachts durch seinen Ruf „kiwitt“ (gedeutet als „komm mit“) in die Irre leitend. Um fast 360 Grad kann der Steinkauz seinen Kopf drehen, aber das tut nichts zur Sache. Wohl aber die Tatsache, dass man erst beim Verlassen des Raums bemerkt, dass man die ganze Zeit beobachtet wurde. Und ob das der wohwollende Vogel der Weisheit oder der gnadenlose des Todes tat, wird dann plötzlich ziemlich relevant.

Jan Timme: Bald fliegt der ganze Schwindel auf. Di–So 11–18, Do bis 21 Uhr; Kunstverein, bis 24.8.