Kalender: positiv

Die US-Doping-Agentur geht gegen prominente Sprinter vor und könnte dabei Rechtsauffassungen umstürzen

BERLIN taz ■ Die amerikanische Anti-Doping-Agentur (Usada) hat in dieser Woche mehreren Leichtathleten geschrieben, darunter Olympiasieger und Weltmeisterinnen wie Alvin Harrison, Chrystie Gaines und Michelle Collins. Auch bei Marion Jones und ihrem Lebensgefährten Tim Montgomery hat es gerappelt im Briefkasten, gleich zweimal sogar, so schwer wiegen die Vorwürfe, die in den Umschlägen steckten. 100-Meter-Weltrekordler Montgomery soll sich bis Ende nächster Woche gleich konkret zu einem angeblichen Doping-Verstoß äußern. Bei Marion Jones, der 100- und 200-Meter-Olympiasiegerin von Sydney 2000, ist es noch nicht so dramatisch: Von ihr will die Usada vorläufig nur ein paar Dinge wissen, zum Beispiel, ob sie verbotene Mittel genommen hat.

Die Fragen sind Jones von Usada-Juristen schon einmal gestellt worden, bei einer Anhörung im Mai. Damals weigerte sich die Athletin jedoch, das Gespräch aufzeichnen oder protokollieren zu lassen, weshalb die Agentur nun offenbar etwas Schriftliches in die Hände bekommen will. „Marion hat alle Fragen beantwortet“, sagte ihr Anwalt Joseph Burton, „sie hat jeden Dopingtest bestanden, dem sie sich unterzogen hat.“

Das ist elegant formuliert, denn es stimmt und schließt doch nicht aus, dass Jones gedopt hat. Mit dem Hinweis auf die Testergebnisse machen Jones und ihre Anwälte ihren Rechtsstandpunkt klar: Kein Dopingverfahren ohne positive Urinprobe. So ist es üblich im Sportrecht. Die Usada will nun aber einen Präzedenzfall schaffen, denn sie stützt sich auf Indizien, die ihr von US-Bundesbehörden überlassen wurden.

Die hatten die Unterlagen gesammelt, als sie gegen Victor Conte ermittelten, den Besitzer des Balco-Labors in Kalifornien. Der ist inzwischen wegen diverser Delikte angeklagt, unter anderem wegen Herstellung und Vertrieb von Dopingsubstanzen. Bei den Vernehmungen soll er gestanden haben, auch Jones und Montgomery beliefert zu haben, unter anderem mit dem Steroid Tetrahydrogestrinon (THG). Contes Anwälte bestreiten indes, dass ihr Mandant eine solche Aussage gemacht hat.

Die staatlichen Ermittler fanden allerdings im September 2003 bei einer Razzia im Balco-Labor auch einen mit „Marion Jones“ beschrifteten Ordner, der diverse Dokumente enthielt, darunter einen Kalender mit den Initialen MJ. Die Aufzeichnungen in diesem Kalender interessieren die Usada-Leute so sehr, dass sie Jones nun um einige Erklärungen gebeten haben. Jones’ Anwälte haben freilich schon bestritten, dass sich der Inhalt auf die Läuferin bezieht; sie gewährten Reportern mehrerer amerikanischer Tageszeitungen sogar Einblick in den Kalender, um ihre Behauptung zu belegen. Nach deren Berichten beziehen sich die gezeigten Seiten auf die Monate März bis August 2001, quasi die gesamte Freiluft-Saison. An 55 Tagen finden sich Eintragungen wie „C 15 Einheiten“ oder „I 3 Einheiten“; auch die Buchstaben G und E kommen häufig vor. Laut der New York Times interpretieren die Ermittler die Buchstaben als Code für die Einnahme von Dopingmitteln: So stehe E für Epitestosteron, eine Art Verschleierungsmittel; I für Insulin zum Muskelaufbau; G für „Growth Hormone“, ein Wachstumshormon, ebenfalls zum Muskelaufbau; C für „Clear“, das war Contes Begriff für THG.

Das spielte auch eine Rolle in dem angeblich Ende 2000 von Conte initiierten „Projekt Weltrekord“. Demzufolge sollte Tim Montgomery mit THG zum 100-Meter-Rekord verholfen werden; tatsächlich lief er ja dann 9,78 Sekunden, im September 2002, also vor dem erstmaligen Nachweis von THG. Offenbar glaubt die Usada, nun genug Indizien gesammelt zu haben, um Montgomery wegen eines Dopingvergehens belangen zu können – auch ohne positive Urinprobe. Tim Montgomery und Marion Jones haben indes schon eine Klage gegen die Usada angekündigt, falls die sie an der Olympiateilnahme in Athen hindern wollte. Da werden die Briefkästen in nächster Zeit noch gewaltig rappeln. JOACHIM MÖLTER