Sex unter Linden

Ungelöstes Rätsel Sommerhit: Er muss den Verstand pulverisieren, den Körper in sinnlose Wallung bringen, und dem großen Spaß muss eine Reue folgen, die seine Interpreten ins Vergessen zwingt

VON HARALD PETERS

Der Sommerhit der Saison 2004 ist gefunden. Der Song hört auf den Namen „Dragostea Din Tei“ und klingt so wunderbar unpassend, wie es sich für einen ordentlichen Sommerhit gehört. Praktischerweise ist er gleich in zwei Versionen erhältlich. Das Original steht seit Dienstag auf dem ersten Platz der deutschen Single-Charts und stammt von der moldawischen Boyband O-Zone. Nur drei Plätze dahinter steht die Kopie. Sie wird von der rumänischen TV-Moderatorin und Schauspielerin Paula Mitrache interpretiert, die sich für ihren Ausflug ins Gesangsfach als Haiducii neu erfand. Vor allem in Südeuropa hat sie damit beachtlichen Erfolg.

Weil es nicht nur für Deutschland der erste und doppelte Charterfolg eines Titels in rumänischer Sprache ist, bleibt natürlich schwer zu sagen, wovon O-Zone und Haiducii da eigentlich singen. Angeblich heißt „Dragostea Din Tei“ übersetzt „Lindenblüten-Liebe“ und bezieht sich auf eine rumänische Redewendung, mit der die Problematik eingebildeter Gefühlswelten beschrieben wird. Dan Balan von O-Zone sagt hingegen, dass der Song von Sex unter Bäumen handelt – wobei er allerdings nicht verriet, ob diese Bäume auch Linden sind. Interessanterweise tauchen aber in den dazugehörigen Videos gar keine Bäume auf. In ihrem Clip hetzen O-Zone zum Flughafen, stellen sich auf eine Tragfläche, fliegen los und haben Spaß. Dann stürzen sie ab, um festzustellen, dass sie womöglich gar nicht losgeflogen sind. Da nun das Video ziemlicher Unsinn ist und auch der Song wahrscheinlich keinen Sinn macht, drängt der Verdacht auf, dass ein voll gültiger Sommerhit auch gar keinen Sinn machen darf.

Man erinnere sich etwa an den „Ketchup Song“. Bis heute kann kein Mensch nachvollziehbar erklären, was das Lied eigentlich soll. Las-Ketchup-Sängerin Lola hat es einmal versucht: „Es handelt von einem Mann, der das Lied wirklich gern mag, und dann in eine Disco geht, wo er den DJ kennt. Und weil der DJ weiß, dass der Mann den Song mag, legt er ihn auf, und dann fangen alle an zu tanzen. Und weil der DJ für den Song keinen anderen Titel weiß, nennt er ihn so, wie der Song jetzt heißt.“

Tatsächlich neigen Sommerhits dazu, den Verstand zu pulverisieren. Was meinte zum Beispiel Lou Bega 1999 mit seinem „Mambo No. 5“? Was hatten die zwei älteren Herren von Los del Rio 1996 im Sinn, als sie zu „Macarena“ über Straßen zappelten? Seit in den Siebzigern der Pauschaltourismus seinen Siegeszug antrat, gibt es in jeder Saison einen Song, der die verblüfften Hörer sowohl vor musikalische als auch inhaltliche Rätsel stellt.

So verkleidete sich schon 1974 die Schwedin Sylvia Vrethammer mit Hilfe eines großen Hutes und einem Satz Kastagnetten als Spanierin und sang in englischer Sprache „Y Viva Espania“. Doch während die frühen Sommerhits noch diffus Fernweh provozierten, klangen spätere wie „Agadoo“ von Black Lace (1984) und „Samba Di Janeiro“ (1997) einfach nur exotisch. Andere hatten wiederum mit dem Pauschaltourismus nur so viel zu tun, als dass sie in den Hotels bei den abendlichen Unterhaltungsveranstaltungen besonders gut einsetzbar waren. Die Electronicas lehrten 1981 mit dem Titel „Dance Little Bird“, der auch als Ententanz bekannt ist, dabei Alt und Jung einen neuen Tanz, während der beliebte DJ Ötzi mit seinem rustikalen Gassenhauer „Hey Baby (Uhh, Ahh)“ sich 2001 von den Balearen über die Strände Australiens in die heimatlichen Skihütten Österreichs schunkeln konnte. Er schuf damit den ersten Sommerhit, der auch im Winter einsetzbar war.

Was einen Song allerdings zu einem Sommerhit macht, bleibt schwer zu sagen. Manche sind exotisch, manche rätselhaft und manche bewundernswert stumpf. Manche werden mit einem passenden Tanz angeboten, manche kann man mitsingen, viele aber auch nicht. Von dem doppelten „Dragostea Din Tei“-Erfolg waren die Plattenfirmen Universal (O-Zone) und Ministry Of Sound (Haiducii) offenbar derart überrascht, dass sie nicht einmal rechtzeitig Informationsmaterial ins Netz stellen konnten. Doch vielleicht haben sie das eigentliche Sommerhit-Geheimnis einfach nur besser durchschaut. Weil die entsprechenden Künstler noch schneller von der Bildfläche verschwinden, als sie kurz zuvor erschienen sind.