strafplanet erde: nacht ist wie ein stilles bier von DIETRICH ZUR NEDDEN
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Was in Köln der Fasching, in Mainz der Karneval, in München der Viktualienmarkt, das ist in Hannover das Schützenfest, zweifelsfrei und selbstverständlich das größte der von Menschen erreichbaren Welt. Zehn Tage lang flirrt die Luft vor beschwingter Heiterkeit, und ein jeglicher macht sich auf den Weg in eines der Festzelte, um ausgelassen zu feiern. Tout Hannover ist auf den Beinen. Aber nicht lange, denn manch ein fröhlicher Zecher bechert, bis er alle Viere von sich streckt.

Traditionsbewusst wird vorzugsweise ein Mischgetränk namens Lüttje Lage verklappt, bestehend aus einem Gläschen dünnem Altbier und einem Fingerhut Schnaps. Beide artistisch mit einer Hand jonglierend zum Mund geführt, fließt die Spirituose während des Trinkvorgangs ins Bierglas. Eine Kleckserei, mittelfristig um so wirkungsvoller, als Holzbretter mit Zehnergebinden die bevorzugte Darreichungsform ausmachen.

Aber auch die in den Fängen des Zeitgeistes verhafteten Konsumenten kommen auf ihre Kosten. Die Jeunesse dorée gießt Bacardi Rigo, Smirnoff Ice und Sierra Slammer Erdbeer in sich hinein, dies Zeug halt, das nicht an eine Bar, sondern auf eine Bonbonniere gehört.

Albernheiten wie diese lehnt ein Muffkopf ab und greift mit der obligatorischen Spiel- und Spaßverderbermiene zum schlichten Pils, das gerechterweise ebenso wenig schmeckt.

In der Absicht, nach alter Väter Sitte den Ausbund an Frohsinn persönlich zu studieren, tatsächlich selbst zu recherchieren statt von den täglichen Info-Event-Seiten der Lokalzeitungen abzuschreiben, begab ich mich ins Zentrum des Vergnügens, auf die Leinwand der Erinnerung Sequenzen aus Achternbuschs „Bierkampf“ projizierend, dem ultimativen Horrorschocker über Menschen in Extremsituationen. Sagte ich Zentrum? Knapp daneben: „Wegen Überfüllung zur Zeit kein Einlass“, stand vor dem hipsten Zelt, und die Security-Schränke schauten streng.

Es war nach Mitternacht an einem Werkeltag, nebenan der Lärm aus Remix-Versionen von NDW-Hits trieb mich schließlich in die innere Emigration. „Nacht ist wie ein stilles Meer“, heißt es bei Eichendorff, „Leid und Lust und Liebesklagen / Kommen so verworren her / In dem linden Wellenschlagen.“ Akkompanierend machten die auf den Tischen Tanzenden die Welle, bis ich unterwegs zum Toilettenwagen den Regenguss genoss: „Wünsche wie die Wolken sind / Schiffen durch die stillen Räume …“

Das Schild an einer Rummelbude lieferte dann Material nicht nur für die Analyse dieses Abends, sondern für Soziologen, indem es jedem Spieler „als Trostpreis entweder einen Hammer oder eine Keule oder eine Gitarre oder ein Schwert oder eine Hand“ versprach. Gewaltbereitschaft, wo ist dein Ventil?

Aber doch, es war schön, endlich mal wieder dabei gewesen zu sein, einer von 1,8 Millionen, eine Zahl, die mehr bedeutet, wie der Präsident des Schaustellerverbandes ahnt: „Vielleicht war dieses Fest ein erstes Zeichen für den Aufschwung.“ Anders gesagt: Hannover – leben, wo andere Urlaub machen.