piwik no script img

Archiv-Artikel

Fast nichts bleibt so, wie es ist

SPD-Spitzenkandidat Schulz will eng mit den Konservativen zusammenarbeiten

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Das Europäische Parlament ist weit weniger berechenbar als die nationalen Volksvertretungen. Das gilt für die tägliche Arbeit, denn Abstimmungen im Plenum sind immer für eine Überraschung gut. Das gilt auch für die Wählerstimmung: Europawahlen bereiten den Meinungsforschern weit mehr Kopfzerbrechen als nationale Prognosen. Beides hängt mit der Zwitterstellung des EU-Parlaments zusammen. Es ist längst kein unverbindlicher Debattierclub mehr, aber es passt auch nicht in das klassische Muster einer repräsentativen Demokratie mit Regierung, Opposition und parlamentarischer Kontrolle.

Deshalb sind die Wähler, wenn sie denn überhaupt an die Urnen gehen, eher zu Experimenten aufgelegt als bei nationalen Abstimmungen. Auf EU-Ebene haben auch unkonventionelle Kandidaten und bunte Parteien eine Chance, Regierungsparteien dagegen oft schlechte Karten. Das zumindest lässt sich einigermaßen sicher voraussagen: Sowohl Schröders SPD (Prognose 27 bis 28 Prozent) als auch Chiracs UMP (geschätzte 20 Prozent) werden Prügel einstecken. In Holland, Portugal, Estland und der Slowakei müssen sich die regierenden Konservativen ebenfalls auf Einbrüche gefasst machen.

Der Antiregierungsreflex trifft die Linke unter dem Strich aber härter als die Konservativen. Im größten neuen Mitgliedsland Polen, das 54 Abgeordnete ins neue Parlament schicken wird, dürften sowohl die regierende Linksallianz als auch die kürzlich abgespaltene sozialdemokratische Partei nur knapp über die Fünfprozenthürde kommen. Auch in Tschechien, Litauen und Ungarn werden die Sozialisten schlecht abschneiden. Tony Blairs Labour Party kann lediglich mit 23 Prozent rechnen, während die euroskeptischen Tories auf 30 Prozent kommen könnten und die neue Anti-Europa-Partei Großbritanniens aus dem Stand heraus womöglich 10 Prozent erreicht. Nur in Spanien sieht es für die Sozialisten günstiger aus: Die Regierung Zapatero ist nicht lange genug im Amt, um sich die Wählergunst schon verscherzt zu haben.

Trotz vieler Unwägbarkeiten spielen die Parteistrategen seit Wochen alle Möglichkeiten durch. Die Vereinigten Linksparteien, zu denen auch die PDS zählt, könnten ein Fünftel ihrer derzeit 55 Sitze verlieren und würden im neuen Parlament keine Rolle mehr spielen. Die Liberalen dagegen, die 67 Sitze halten, könnten zulegen – vor allem, wenn die FDP nach zwei vergeblichen Versuchen wieder die Fünfprozenthürde überwindet.

Ihnen könnte im neuen Parlament die Rolle des Mehrheitsbeschaffers zufallen. Die London School of Economics legte Mitte April Berechnungen vor, wonach die Konservativen im neuen Parlament 285 der 732 Sitze erhalten könnten. Sozialisten, Linke und Grüne kämen zusammen auf 296 Stimmen. Die Liberalen würden damit zum begehrten Bündnispartner für beide Seiten. Vorausgesetzt, sie gründen nicht gleich mit einigen Parteien des konservativen Lagers eine neue Fraktion. Die französische UDF und italienische Abgeordnete, denen es schon lange nicht mehr gefällt, mit den eurofeindlichen Tories die Fraktionsbank zu drücken, haben im Februar bei einem Treffen mit dem liberalen Fraktionschef Graham Watson sehr konkrete Pläne entwickelt. Kommissionschef Romano Prodi ist einer der Geburtshelfer dieser Idee. Entscheidungen sollen nach der Sommerpause fallen, wenn sich das neue Parlament zum ersten Mal trifft.

Die wichtigste Personalie der kommenden Monate ist dann längst entschieden: Den neuen Kommissionspräsidenten wollen die Staats- und Regierungschefs nächste Woche auf dem Gipfel in Brüssel ernennen. Er soll aus dem Lager der konservativen Parlamentsmehrheit stammen. Sollten allerdings die Liberalen die großen Wahlgewinner sein, wäre auch Guy Verhofstadt (derzeit belgischer Ministerpräsident) oder Pat Cox (Präsident des EU-Parlaments) ein denkbarer Kandidat.

Die letzte Eurobarometer-Umfrage Anfang Juni hat gezeigt, dass die Wähler in Ost und West unterschiedliche Sorgen haben. Während man in den neuen Mitgliedsländern vor allem wirtschaftliche Verbesserungen, Lösungen zur Altersvorsorge und Landwirtschaftshilfe von der EU erwartet, steht im Westen der Kampf gegen den Terrorismus hinter der Sorge um den Arbeitsplatz gleich an zweiter Stelle. Ob sich die Politiker im neuen Parlament dieser Sorgen annehmen, ist nicht ausgemacht. In der Wahlkampagne spielte die Wirtschaftspolitik zwar eine Rolle, ansonsten sprachen die Kandidaten aber lieber über den Beitrittsantrag der Türkei, die Verfassung oder gemeinsame Außenpolitik.

Wie das Parlament in Umweltfragen abstimmen wird, ist völlig offen

Wie sich das neue Parlament bei Grundsatzentscheidungen zur Umweltpolitik, zum Datenschutz oder zur Einwanderung stellen wird, ist eine spannende und völlig offene Frage. Bislang stimmte die Mehrheit eher für an Menschenrechten orientierte, unternehmenskritische und umweltorientierte Positionen, die ein Gegengewicht zu den Entscheidungen im Ministerrat bildeten. Doch die Neulinge werden sich möglicherweise nicht in diese Tradition einbinden lassen. Sie werden im neuen Parlament 162 der 732 Sitze einnehmen und damit das Kräfteverhältnis entscheidend verändern.

Deshalb sind auch Gedankenspiele des deutschen Sozialdemokraten Martin Schulz, der als neuer Fraktionschef der Sozialisten gehandelt wird, verfrüht. Er will im neuen Parlament eng mit den Konservativen in einer Art informellen großen Koalition zusammengehen. Wechselnde Mehrheiten je nach Themenbereich, wie sie in der Vergangenheit üblich waren, hätten das Parlament gegenüber Rat und Kommission geschwächt, meint Schulz. Bei Themen wie Binnenmarkt oder Umweltgesetzgebung, wo das Parlament gleichberechtigt mit dem Rat entscheide, müsse man künftig eine stabile Mehrheit hinter sich wissen.

Schon in der nun auslaufenden Legislaturperiode hat sich dieser Trend zu pragmatischer Politik deutlich gezeigt. Natürlich wird das Europaparlament mit steigendem Einfluss erwachsener. Stabile Mehrheiten machen es tatsächlich zu einem ernsthaften Gegenspieler des Rates. Doch der Preis dafür ist hoch, weil der Spielraum für unkonventionelle Entscheidungen über Fraktionsgrenzen hinweg verloren geht.