Ball am Kopf – oder umgekehrt?

Wahrheit-Sonderkorrespondenten vor Ort: EM-Tipps an der „Goetheke“

Drei Sitzreihen vor den Toiletten heult jetzt das Lied der Taiga

„This ist the last, okay?!“ Lufthansaflug 1004 Frankfurt–Lissabon, irgendwo über dem Baskenland. Oder ist das da unten Galicien? Die Chefstewardess blickt streng. Die Russen saugen den Whiskey weg und äugen treuherzig. Oder muss man sagen „glasig“? Sind es überhaupt Russen? Letten? Oder Dänen, die sich als Russen ausgeben? Hobby-Schweden, die Letten imitieren, um nicht als Bulgaren erkannt zu werden? Denn Bulgarien ist Geheimfavorit. Neben den Kroaten, der Schweiz und Griechenland, versteht sich. „0:1“ wird anderntags der portugiesische Autor Rui Zink („Apokalypse Nau“) das Eröffnungsspiel tippen. Aber dazu später mehr. Aus dem fidelen Quartett, drei Sitzreihen vor den Toiletten, heult jetzt das Lied der Taiga. Jedenfalls klingt es so. Es könnte aber auch „Arrivederci Roma“ sein oder die brasilianische Hymne, denn alle lallen schwer und haben sich die kanariengelben Trikots der Seleçao notdürftig über die Schmerbäuche gezogen.

„You are now entering Euro 2004 playing area“ prunkt in großen Lettern neben den Laufbändern, wo sich jetzt Menschen aus 16 Nationen um die Samsonites streiten. „Guten Abend allerseits“: Die Sonderkorrespondenten der Wahrheit sind erleichtert. Es ist zwar erst Mittag, aber da grüßt immerhin ein vertrautes Gesicht. Heribert Faßbender rollt drei Schrankkoffer aus der Luggage-Area und grient in die Kameras. Vergeblich. Die Jungs vom TV-Sender Odisséia warten auf Portugals U21, die es bei ihrer EM bis ins Halbfinale und damit nach Olympia geschafft haben. Anders als die deutschen Hoffnungsträger „Schweini“ und „Poldi“. Dafür hat der DFB die beiden stante pede nach Faro expediert als Verstärkung für Rudis Rumpelfüßler.

Nachnominiert, wie die Herren zur Nedden und Quasthoff. Sie laufen im Goethe-Institut auf, wo sich 20 Referenten aus zwei Ländern zum Kolloquium „A Cabeça na Bola“ treffen: auf Deutsch gesagt, den „Ball am Kopf“ haben oder vielleicht auch umgekehrt. Egal. Den Portugiesen spukt, wie man hört, ja eh nichts anderes im Kopf herum, seitdem sie vor Jahrhunderten an der Copacabana gelandet sind und mit ansehen mussten, wie die Brasilianer im eleganten 4:2:4 Kokosnüsse über den Strand kickten. Ausrichter des Denksporttuniers ist A Bola, mit einer Auflage von 150.000 nicht nur die größte der drei täglich erscheinenden Fußballzeitungen, sondern das auflagenstärkste Blatt des Landes überhaupt. A Bola gilt als Amtsblatt der Benficistas, Record mit 120.000 vertritt die Sporting-Fans, Jogo verkauft 60.000 an die Anhänger des FC Porto. Die kann in Lissabon aber niemand leiden. Wie die Engländer, die Portugals WM-Auswahl um den Wunderstürmer Eusebio 1966 im Halbfinale stoppten. Die Wahrheit-Korrespondenten werden dagegen empfangen wie die Könige. Dank Gerd Müllers Siegtor, das den Erfindern des modernen Fußballs 1970 den Todesstoß versetzte, warteten am Flughafen sieben Schönheitsköniginnen, die zur Nedden und Quasthoff in vierspännigen Kaleschen zur Goethe-Dependance chauffieren. Theweleits „Männerphantasien“ haben die beiden aber gar nicht im Gepäck, sondern sein „Tor zur Welt“, die Be- und Erkenntnisse eines zwischen vier Eckfahnen sozialisierten Großintellktuellen.

Theweleit selbst musste passen wegen eines „quer denkenden Knies“. Dem Kardinal von Lissabon, Seiner Exzellenz José da Cruz Policarpo, tat das sehr Leid. Er habe die „Männerphantasien“, wie er bekennt, „seit Jahren unter dem Kopfkissen“ – wenn die Synchronübersetzung das richtig übermittelt. Aber Detlev Claussen ist mehr als ein adäquater Ersatz. Der Linksfuß aus der alten Frankfurter Schule des legendären Theodor Wiesengrund „Garrincha“ Adorno spielt zeitweilig geniale Doppelpässe mit Leonor Pinhão, Portugals bekanntester Sportjournalistin, und dem Dichter und Politiker Manuel Alegre. Das ist auch geboten, denn das Mittelfeld ist eher konservativ besetzt. Rainer Holzschuh, Chefredakteur des Kickers, und Walter Eschweiler, der Georg Thomalla der deutschen Schiedsrichterzunft, steigen des Öfteren etwas übermotiviert in die Debatten, sodass die höflichen Gastgeber ihnen das Spielfeld weiträumig überlassen. In Anbetracht der deutschen Feldüberlegenheit ziehen sich die Botschafter der Wahrheit mit Rui Zink an die „Goetheke“ zurück und tippen das Turnier bis ins Endspiel durch.

Alle drei gelangen zu dem Ergebnis, dass das heimische Team nicht zu schlagen ist. Aber es wird anders kommen. Wie Zink berichtet, hat das Tourismusministerium sein Veto eingelegt. Unerforschliches Portugal: Wo auf EU-Wahlplakaten der CDU Hammer und Sichel prangen, ist alles möglich. Demnächst mehr darüber und über die EM-Chancen der Kelten, der Phönizier und Mongolen.

DIETRICH ZUR NEDDEN
MICHAEL QUASTHOFF