Lauf um dein Leben

„Die neue Dienstbotenfrage“, die heute im Hinblick auf die Feminisierung der globalen Arbeitsmigration diskutiert wird, hat viele Parallelen zum Arbeitsmarkt des letzten Jahrhunderts. Um 1900 war ein Fünftel aller Frauen im deutschen Kaiserreich als Dienstmädchen angestellt. Von den 1,3 Millionen Dienstboten waren etwa 96 Prozent ledige junge Frauen; sie stellten damit die größte weibliche Berufsgruppe. Über 40.000 Mädchen kamen damals jährlich in Berlin an, denn es wurden bevorzugt Mädchen aus der Provinz rekrutiert, zunächst aus der Mark Brandenburg, später auch aus den Ostgebieten. Die meisten dieser Mädchen kamen aus den untersten sozialen Schichten, waren bescheiden und an spärlichen Lohn und harte Arbeit gewöhnt. Der Schlesische Bahnhof, wo die Mehrzahl von ihnen in Berlin eintraf, war Knotenpunkt für Zuhälter und Kupplerinnen, die die jungen Mädchen unter falschen Versprechungen mit sich nahmen. Seit 1894 verteilte die Bahnhofsmission, gegründet mit dem Ziel, die Mädchen vor den „sittlichen Gefahren der Großstadt“ zu warnen, deshalb Handzettel im Bahnhof mit Ratschlägen für die unerfahrenen jungen Frauen.

„In Stellung“ gingen die Mädchen direkt nach der Volksschule, also im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren. Die Laufbahn begann als „Mädchen für alles“, das alle harten Arbeiten zu übernehmen hatte. In größeren Häusern gab es außerdem noch Haus- oder Stubenmädchen, die sich um den Empfang von Gästen, das Nähen oder Servieren kümmerten. Nach mehreren Stellenwechseln und jahrelanger Erfahrung konnte man schließlich in die Stellung der Köchin aufrücken – erklärtes Ziel aller Dienstmädchen, weil diese Position mit verschiedenen Vergünstigungen einherging.

Denn die Arbeit war hart, vor allem auf der untersten Stufe der Hierarchie. 58,5 Prozent der befragten „Mädchen für alles“ gaben in einer Umfrage im Berlin gegen Ende des 19. Jahrhunderts an, dass sie mehr als 16 Stunden täglich arbeiteten. Nur 2 Prozent hatten dagegen das Glück eines Arbeitstags von unter 12 Stunden. Die Dienstmädchen unterstanden dem Ausnahmerecht der Gesindeordnungen, die Sozialpolitik Bismarcks ging deshalb an ihnen vorbei. Sie standen in Abhängigkeit von ihrer Herrschaft, körperliche sowie sexuelle Ausbeutung und mangelhafte Ernährung waren keine Seltenheit.

1848 gründete sich deshalb der erste Dienstmädchenverein Deutschlands in Leipzig. Es folgten 1899 und 1900 Dienstbotenversammlungen in Berlin, wo beinahe wöchentlich in den verschiedenen Stadtteilen 400 bis 600 Personen zusammenfanden. 1906 gründete sich der erste gewerkschaftliche Verein der „Dienstmädchen, Wasch- und Putzfrauen“ in Nürnberg. Die Forderungen reichten von der Abschaffung der Gesindeordnungen über kürzere Arbeitszeiten bis zu besserer Kost und Behandlung. Erst im Zuge der Gründung des Gewerkschaftsvereins änderte auch die SPD ihre Haltung, die zuvor von Indifferenz geprägt war. August Bebel und Lily Braun etwa propagierten das „Einküchenhaus“, weil Privatküchen in jedem einzelnen Haushalt reine Zeit-, Kraft- und Geldverschwendung seien. Mit Ausnahme der Aufnahme der Dienstboten in die gesetzliche Krankenvorsorge, die 1914 erfolgte, blieben aber diese Bemühungen praktisch ohne Erfolg. Gründe dafür mochten sein, dass die jungen Frauen ihre Stellung eher als „Übergangsphase“ bis zur späteren Heirat sahen, bei Problemen lieber individuell die Stellung wechselten, als sich zu organisieren. Die „Dienstbotenfrage“ jedenfalls erledigte sich mit den beiden Weltkriegen und der zeitgleichen Erweiterung der beruflichen Möglichkeiten der Frauen beinahe von selbst. Explizite Reformen hatte es nie gegeben. AL

Schon ab 100 Dollar im Monat kann man sich im Libanon eine afrikanische oder asiatische Hausangestellte halten. Laut einer Studie stirbt jede Woche mindestens eine dieser Frauen einen gewaltsamen Tod

VON GABRIELA M. KELLER
(TEXT) UND TOBIAS SCHNEIDER (FOTOS)

Schnelle Schritte hallen durch das nachtstille Ankunftsterminal. Zwei Sicherheitsbeamte hasten im fahlen Licht der Neonröhren vorüber. Kurz vor dem Zollschalter stehen rund zweihundert dunkelhäutige Frauen, schweigend, eng zusammengerückt, und klammern sich an Taschen fest. An der Wand hinter ihnen steht: „Empfangszone für Dienstmädchen“.

Angeline Razanatsa Lama hat nicht gewusst, dass es im März noch so kalt sein würde, so viel kälter als auf Madagaskar. Jetzt, wo sie ihre Heimat zum ersten Mal verlassen hat, merkt sie, dass sie leise zittert. Sie zieht ihre Jacke enger um sich, der dünne Polyesterstoff raschelt. Eine Frauenstimme säuselt in kurzen Abständen aus den Lautsprechern: „Willkommen am Rafiq-al-Hariri-Flughafen in Beirut.“

Heute lächelt Angeline Razanatsa Lama dünn, wenn sie sich an jenen Tag vor vier Jahren erinnert. Die 37-Jährige ist eine zurückhaltende Frau mit ruhigen, braunen Augen. Sie arbeitet im ersten Stock eines Art-déco-Hauses in dem eleganten Beiruter Christenviertel Gemmayze. Sie tritt heran, flink, doch trotz Pfennigabsätzen geräuschlos, hockt sich auf die Kante eines Sessels nahe der Tür. Um sie herum breitet sich ein weitläufiger, großbürgerlicher Wohnraum aus, heller Marmor auf dem Boden, schwere Bronzekronleuchter an der Decke.

Sie sagt, arm sei sie nie gewesen, auch nach ihrer Scheidung nicht. Ihre Konditorei brachte jeden Monat achtzig Dollar ein. Das ist reichlich auf Madagaskar, genug jedenfalls, um drei Kinder satt zu kriegen. Doch Angeline Razanatsa Lama wollte mehr: Ihre Kinder sollten zur Privatschule gehen und nicht in eine dieser staatlichen Schulen, wo die Lehrer so schlecht bezahlt werden, dass sie oft nicht zum Unterrichten erscheinen. Doch die Privatschulen sind teuer, viel zu teuer für eine einfache Konditorin. Also ging sie zu einer dieser Agenturen, die an allen Ecken des Landes mit Angeboten traumhaft bezahlter Stellen im Ausland werben. „Ich wollte im Leben etwas erreichen“, sagt sie. Schulterzucken. „Das will doch jeder.“

Die Madagassin hatte Glück: Sie verdient heute 450 Dollar im Monat, während der übliche Lohn für ausländische Hausangestellte im Libanon zwischen 100 und 200 Dollar liegt. Dafür putzt sie, kocht, kauft ein und betreut ab und an den kleinen Sohn ihres Arbeitgebers, eines französischen Fernsehproduzenten.

Ihre eigenen Kinder hat sie seit vier Jahren nicht gesehen. Der 14- und die 18-Jährige, die verstehen das, meint sie. Der Achtjährige kennt es kaum anders. „Es ist schwer, sehr schwer“, murmelt sie. „Aber wir haben keine Wahl.“ Zögerlich, fast scheu, bittet sie dann in ihr Zimmer. Von der Küche aus führt eine schmale Treppe hinauf in eine niedrige Kammer. Ein klobiger, veralteter Computer steht auf übereinandergestapelten Kartons. Auf dem Bett sitzen Teddybären. Die Wände sind behängt mit Bildern von Models in Luxuskleidern, herausgerissen aus einem Modemagazin. „Drei Jahre will ich noch im Libanon arbeiten“, sagt sie, „dann habe ich genug gespart, um die Ausbildung der Kinder zu finanzieren.“

Manchmal, meint sie, besonders im Sommer, wenn der Wind übers Meer kommt und die Abgase, die Hitze, den Baulärm weit wegträgt, dann gelingt es ihr, das Heimweh kurz zu vergessen. Dann ist ihr einen Moment lang nicht bewusst, wie fremd sie in diesem Land ist, wo die Menschen eine Afrikanerin sehen und „Dienstmädchen“ denken. Doch dann sagt wieder ein Kellner im Strandcafé zu ihr: „Bitte geh. Das hier ist nicht für Leute wie dich.“

Es gibt keine Statistik darüber, wie viele Frauen aus den armen Ländern Afrikas und Asiens es sind, die in libanesischen Haushalten arbeiten. Schätzungen gehen davon aus, dass unter den 3,5 Millionen Einwohnern des Landes bis zu 250.000 ausländische Hausmädchen leben. Überall in den Straßen von Beirut sieht man sie, Nepalesinnen, Sri-Lankerinnen, Äthiopierinnen, Sudanesinnen, Vietnamesinnen, Togoerinnen. Schon morgens, bevor die Sonne aufgegangen ist, wienern sie Autos und fegen Hofeinfahrten. Später am Tage führen sie Schoßhunde an der Leine. Gießen Balkonpflanzen. Schleppen Einkaufstüten. Wischen Treppen. An den Wochenenden ziehen sie über die Corniche, beladen mit Badetaschen, Campingstühlen, Kleinkindern, immer zwei bis drei Schritte hinter den zugehörigen Ehepaaren. In den Spielecken der Strandcafés ringsum geben sie auf Söhne und Töchter acht, während die Eltern ungestört von ihrem Nachwuchs beim Cappuccino zusammensitzen.

Ihre Freiheit haben die Frauen mit ihrem ersten Schritt auf libanesischem Boden verloren. Schon am Flughafen nehmen die Sicherheitsbeamten jeder Gastarbeiterin ihren Pass ab und übergeben ihn direkt an die Arbeitgeber. Ihr erster Gang führt sie meist in das örtliche Büro ihrer Agentur. Dort bekommen die Frauen einen neuen Vertrag vorgelegt. Was sie da unterzeichnen, wissen sie nicht, die Papiere sind auf Arabisch aufgesetzt. Oft ist ein niedrigerer Lohn festgehalten, als in ihrer Heimat ausgemacht wurde. Und dann stehen sie da, ohne Geld in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht sprechen. Fortlaufen können sie nicht: Jede Polizeikontrolle brächte eine Ausländerin ohne Papiere direkt ins Gefängnis. „Die Arbeitgeber nehmen die Pässe an sich, um ihre Investition zu sichern“, erklärt der Beiruter Rechtsanwalt Roland Tawk.

Für die Vermittlung eines Dienstmädchens stellen die Agenturen rund 2.000 Dollar in Rechnung. Damit werden die Kosten für Flug und Visa sowie die Gebühren abgedeckt. Tawk vertritt seit mehr als zehn Jahren ehrenamtlich Gastarbeiterinnen. Doch da das libanesische Arbeitsrecht ausdrücklich nicht für Hausangestellte gilt, fehlen dem 39-Jährigen schlicht die juristischen Argumente. Zudem zeigen sich viele Arbeitgeber erfinderisch: Gelingt einer Migrantin die Flucht oder klagt sie womöglich noch auf die Zahlung ausstehender Löhne, dann findet sie sich nicht selten selbst auf der Anklagebank wieder. „Es kommt immer wieder vor, dass die Leute in solchen Fällen behaupten, sie habe Schmuck oder Geld aus dem Haus gestohlen“, schildert Roland Tawk.

Hunderte Migrantinnen sitzen derzeit in den libanesischen Gefängnissen Haftstrafen für solche fiktive Verbrechen ab. „Sie müssen ihre Unschuld beweisen, um nicht verurteilt zu werden“, erklärt der Anwalt und blickt etwas hilflos über die Aktenberge auf seinem Schreibtisch hinweg. „Alle rechtlichen Vorteile sind aufseiten der Arbeitgeber.“

Die Philippinin sitzt zusammengesunken in einem Bürostuhl im Caritas-Migrantenzentrum in dem Beiruter Vorort Sin al Fil. Eine zierliche Frau, 29 Jahre alt, mit eng an den Kopf geflochtenen Rastazöpfen. Ihr Blick ist schräg nach unten gerichtet. „Ich will nur noch nach Hause“, sagt sie drängend, nahezu flehend. „Ich will zurück zu meiner Familie.“ Sie murmelt immer nur diese beiden Sätze vor sich hin. Erst nach einer Weile beruhigt sie sich etwas. Sie will anonym bleiben, sie schämt sich. Und wenn ihr Arbeitgeber herausfindet, wo sie ist, wer weiß, was dann passiert. Er könnte sie von der Polizei zu sich zurückschaffen lassen.

Ihre Agentur hatte ihr eine Stelle in einem libanesischen Haushalt versprochen. Als sie in Beirut ankam, wurde sie in ein Ferienresort an der Küste gebracht. „Jeden Tag musste ich zwanzig Stunden lang putzen“, sagt sie, „die ganze Anlage, die Kabinen, den Strandabschnitt, die Bungalows, den Pool, die Personalräume.“ Dafür erhielt sie 180 Dollar im Monat. Das entspricht einem Stundenlohn von rund zwanzig Eurocent.

In anderthalb Jahren durfte sie keinen einzigen freien Tag nehmen. Als ihr Arbeitgeber ihr zuletzt nicht einmal mehr Lohn zahlte, lief sie davon. „Ich hatte die ganze Zeit über noch gehofft, dass es besser wird“, bringt sie stockend hervor. „Meine Familie ist doch auf das Geld angewiesen.“ Auf die Frage, wie sie in dem Resort gelebt hat, senkt sie den Kopf noch ein Stück weiter. Es ist ihr peinlich, dass sie gezwungen war, im Waschkeller zu schlafen und Abfälle aus dem Restaurant zu essen. Die 29-Jährige versteckt sich nun seit einem Monat im Schutzheim des Caritas-Migrantenzentrums. In dem Büro der Hilfsorganisation kümmert sich die Sozialarbeiterin Dima Haddad um ausländische Hausangestellte, die in Not geraten sind.

„Oft werden Löhne nicht gezahlt, oder die Frauen müssen rund um die Uhr zur Verfügung stehen“, sagt die Sozialarbeiterin. „Zudem haben wir es mit Misshandlungen, Vergewaltigungen, Menschenhandel und Zwangsprostitution zu tun.“ Eine Telefonumfrage der Caritas belegt, wie alltäglich schwere Grundrechtsverletzungen in den Haushalten sind: 91 Prozent der Arbeitgeber behalten den Pass ihrer Angestellten ein. 71 Prozent verbieten ihr, allein aus dem Haus zu gehen. 31 Prozent geben zu, sie zu schlagen. 33 Prozent schränken ihre Nahrung ein. „Die Migrantinnen sind völlig schutzlos“, sagt Dima Haddad. „Manchmal höre ich hier Geschichten, da denke ich: Oh mein Gott, wie hat sie es geschafft, am Leben zu bleiben!“

Ein schlichtes, funktionales Bürogebäude steht an einer vierspurigen Straße im Zentrum von Beirut. Auf dem Dach schlägt die blaurote Flagge der Philippinen träge im Wind hin und her. Unter der Erde, im Keller der Botschaft, halten sich 45 Frauen versteckt. Die Sozialarbeiterin Annie Israel winkt müde ab: „Wir hatten auch schon mal 120.“ Zeigen will sie die Unterkünfte auch auf mehrere Bitten hin nicht – eine Botschaft sei kein Frauenhaus, die Räume seien daher nicht angemessen.

Annie Israel ist eine kleine, drahtige Mittvierzigerin. Ein gradliniger Pagenkopf liegt um ihr strenges Gesicht wie ein schwarzer Rahmen. Eigentlich, sagt sie, hat die Regierung der Philippinen schon vor Jahren ein Gesetz erlassen, das ihren Staatsbürgern die Einreise in den Libanon als Gastarbeiter verbietet. Doch wer arm ist und entschlossen, der findet trotzdem noch Wege – zum Beispiel über Drittländer. „Als ich in den Libanon kam, war ich schockiert, zu sehen, wie schlecht die Frauen hier behandelt werden“, sagt Annie Israel.

Todesfälle werden knapp und pflichtschuldig vermeldet, am Seitenrand der Tageszeitungen. Eine Madagassin trieb ertrunken im Swimmingpool, einer Sri-Lankerin brach der Schädel, als sie von einem Balkon in der fünften Etage stürzte. Laut einer Studie von Human Rights Watch stirbt jede Woche mindestens eine der Hausangestellten im Libanon einen gewaltsamen Tod.

Die Menschenrechtsgruppe hat zwischen Januar 2007 und August 2008 insgesamt 95 Todesfälle registriert. Als Ursachen nennt die Organisation Selbstmorde und Unfälle beim Versuch, aus dem Haushalt zu entkommen. Doch Annie Israel vermutet, dass oftmals auch Gewalt von außen eine Rolle spielt. Zu einer polizeilichen Untersuchung kommt es in der Regel freilich nicht. Die Sozialarbeiterin hebt eine ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen und sagt, vorsichtig: „Die Arbeitgeber können alle Arten von Verbrechen an den Frauen begehen, ohne eine Strafe befürchten zu müssen.“ Wenn eine Philippinin also die Helpline der Botschaft anruft, weil sie misshandelt wird, sagt Annie Israel ihr: „Lauf. Lauf um dein Leben.“

Doch es sind nicht nur Schlösser an den Türen, die die Frauen überwinden müssen, sondern auch ihre eigenen Träume, von einer gesicherten Zukunft, vom eigenen Haus, von einem kleinen Betrieb. „Wir hatten so viele Hoffnungen“, sagt eine der jungen Frauen, die derzeit im Keller der Botschaft leben. „Aber nichts davon hat sich erfüllt. Wir werden hier wie Sklaven gehalten. Selbst ihre Hunde behandeln die Leute besser. Hunde dürfen ab und an mal ausruhen.“ Die 33-Jährige steht unsicher und leicht wankend auf den kühlen Fliesen von Annie Israels Büro. So als sei sie hier in einer fremden Welt, deren Naturgesetze sie nicht kennt. Die meisten Fragen beantwortet sie mit „Yes, Ma’am“. Den Drill, den Zwang zum Gehorsam, die Furcht vor Strafe, sie hat das sichtlich noch nicht überwunden. „Madame hat mich oft ins Gesicht geschlagen, wenn sie nicht zufrieden war“, sagt sie. „Auch ihre zwölfjährige Tochter schlug mich. Einmal hat sie mir eine Lampe an den Kopf geworfen.“ Dann muss das Gespräch abgebrochen werden, weil ihr bisschen Stimme in Tränen erstickt.

Wie viele Frauen über Jahre hinweg eingekerkert bleiben, kann man sich nur ausmalen. Annie Israel geht jedem Hinweis nach, notfalls eigenständig. „Gerade versuchen wir, eine junge Frau zu befreien. Die Leute haben sie in eine Kammer gesperrt und geben ihr nicht einmal mehr etwas zu essen.“ Philippinische Migranten aus den oberen Etagen des Hauses legten ihr Essen in einen Korb und ließen ihn an einem Faden aus dem Fenster zu ihr hinunter. „Wir waren bereits da, um sie rauszuholen. Da rief der Arbeitgeber die Polizei, und die hat uns des Grundstücks verwiesen“, schildert Annie Israel. Dann lächelt sie, schmallippig und etwas grimmig; sie sagt: „Aber wir geben nicht auf.“

Es gibt in Beirut ein paar Orte, an denen scheint die Stadt ein einziges Fest zu sein; wo Hochhäuser nur gebaut werden, damit es Rooftop Bars gibt, wo die Jeunesse dorée Champagner aus Magnumflaschen trinkt, inmitten weißer Sofalandschaften. Doch die Stadt ist keine Partylocation in diesen Tagen, es ist ein ruheloser Ort in einer Krisenregion. Arm und Reich prallen schrill aufeinander. Luxuslimousinen und mondäne Villen neben Flüchtlingsslums und Kriegsruinen. Konfessionen und Klassen bleiben unter sich, da ist es wichtig, zu zeigen, wo man steht: Ein SUV, ein Schönheits-OP-Pflaster über der Nase, eine Louis-Vuitton-Tasche, das sind die Erkennungsmerkmale der Oberschicht einer Stadt, deren Bewohner den nächsten Tag zumeist nur erreichen, wenn sie sich um sich selber kümmern.

Ein Dienstmädchen in adretter Uniform, auch das ein Statussymbol. Ein vergleichsweise leicht bezahlbares. Deswegen sind die ausländischen Hausangestellten ein Phänomen, das sich über alle Einkommensschichten erstreckt. Der Alltag hinter der Fassade sieht oft weit weniger glamourös aus: Viele der Migrantinnen müssen in der Küche oder auf dem Balkon schlafen und bekommen zu wenig zu essen, weil in den Haushalten schlicht das Geld fehlt, sie angemessen zu versorgen. Als der französische Fernsehsender France 1 im vergangenen Herbst eine Reportage mit dem Titel „Libanon, Land der Sklaven“ ausstrahlte, reagierten viele Libanesen mit Empörung. Der Beitrag hatte erörtert, welchen Anteil Gesellschaft und Regierung an der Ausbeutung der Frauen haben. Am deutlichsten antwortete das Boulevardmagazin Jarass mit einem Artikel unter der Überschrift „Kauf niemals einen Sklaven ohne Stock“. Der zugehörige Fernsehkanal bezeichnete die Migrantinnen als „rückständige Leute“, die „rebellieren, wenn man freundlich zu ihnen ist“.

Ansichten solcher Art seien im libanesischen Alltag nichts Ungewöhnliches, meint Nadim Houry, der Leiter des Beiruter Büros von Human Rights Watch. „Aber dass eine Sendung in aller Öffentlichkeit derart rassistische Positionen vertritt, war doch schockierend“, sagt er. „Gott sei Dank hat eine ganze Reihe von Zivilgesellschaftsaktivisten und Journalisten danach mit öffentlichen Protesten deutlich gemacht, dass nicht alle Libanesen so denken.“

Es mag dieser bisweilen offene Rassismus sein, der zu den moralischen Ursachen der vielen Misshandlungsfälle zählt. Auf den Werbetafeln der rund 400 Vermittlungsagenturen im Libanon sind schwarze Frauen zu sehen, die mit unterwürfigem Blick Tee auf Silbertabletts kredenzen. Bis vor wenigen Jahren stand nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen auf einem der Plakate: „Sri-Lankerinnen zu verkaufen“.

Irgendwo im Osten von Beirut sitzt eine schmale Madagassin mit kurzen Haaren und weiß, dass ihr kein Ausweg bleibt. Völlig reglos hängt die 37-Jährige in den Polstern. Weil ihr nicht über die Lippen kommt, was ihr passiert ist, redet ihre ältere Schwester. Die 41-Jährige spricht so schnell und hektisch, dass sich die Silben überschlagen. Immer wieder wird sie währenddessen von kurzen, überdrehten Lachkrämpfen geschüttelt. Die Namen der beiden Frauen können nicht veröffentlicht werden, die 37-Jährige wird polizeilich gesucht.

„Die Gewalt gegen uns ist ein Tabu“, sagt sie. „Niemand weiß etwas davon, niemand spricht darüber.“ Sie aber hat etwas loszuwerden, will, dass jemand von dem Unrecht erfährt. Seit acht Wochen versteckt sie ihre Schwester bei sich. Sie hat selbst mehrere schlechte Erfahrungen hinter sich. Heute putzt sie gegen Stundenlohn in verschiedenen Haushalten und Schulen.

Ihre Schwester, eine Witwe, wurde im September 2006 an einen alleinstehenden Mann vermittelt. Sie war gezwungen zu arbeiten, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach. Der Arzt verschrieb Tabletten und ordnete eine Woche Bettruhe an. Ihr Arbeitgeber sagte: Sie ist hier, um zu arbeiten, nicht, um sich auszuruhen. Er sagte: Die ist nicht krank, nur faul. „Sie drohte, alle ihre Medikamente auf einmal zu nehmen, um sich umzubringen, so verzweifelt war sie“, erzählt ihre Schwester und schüttelt den Kopf. Der Hausherr bekam Angst und warf die Madagassin raus.

Die Agentur vermittelte sie neu. Diesmal geriet sie an eine Familie, deren Vater an schweren psychischen Störungen litt. Wenn alle anderen ausgegangen waren, ging er auf sie los. Er schlug, trat, spuckte nach ihr. „Einmal hat er sie mit einem Messer durchs ganze Haus gejagt“, erzählt die Schwester und lacht laut. Als die Ehefrau merkte, dass ihr Mann die Angestellte nicht um sich ertrug, kündigte sie ihr. Sie wurde an eine neue Agentur weitergeschoben.

Viele Büros arbeiten unseriös, aber die Inhaber dieser Firma sind sogar professionelle Betrüger: Sie brachten die Madagassin in einen neuen Haushalt und kassierten ihre zweitausend Dollar. Dann entführten sie die Frau – um sie kurz darauf anderswo erneut zu vermitteln. Gegen Gebühr, versteht sich. So ging das über drei Monate hinweg. „Sie war im Osten des Landes, im Norden, sogar bis Syrien haben sie sie geschafft“, sagt ihre Schwester. „Ich hatte keine Ahnung, wo sie war. Ich dachte, ich hätte meine Schwester verloren.“

Schließlich gelang der 37-Jährigen die Flucht, ohne ihren Pass. Mehrere der Familien haben Klage erhoben – nicht gegen die Agentur, sondern gegen die Madagassin. „Wie soll meine Schwester nun nach Madagaskar zurückkehren!“, ruft die 40-Jährige und reckt die Arme in die Luft. Keine humanitäre Organisation konnte den beiden Frauen helfen, bei der Botschaft wurden sie weggeschickt. Sie schweigt kurz, lässt den Blick aus dem Fenster wandern und sagt: „Man muss stark sein, wenn man in den Libanon kommt. Sonst stirbt man.“

TOBIAS SCHNEIDER, 37 Jahre, ist freier Fotograf, sein aktuelles Projekt: Die Färber von Fès GABRIELE M. KELLER, 33 Jahre, lebt und arbeitet seit drei Jahren im Nahen Osten. Derzeit schreibt sie an einem Porträt über die Nichte des ersten Selbstmordattentäters in der Geschichte des militanten Islam