: Rudis Geheimnisvöllerei
Fest steht: Heute Abend (20.45 Uhr) muss die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Porto gegen Holland in die EM starten. Der Rest aber ist zumindest offiziell noch offen, denn niemand soll wissen, wer im deutschen Team wo spielt
AUS PORTO FRANK ENZENAUER
Endlich! Die Wortgeplänkel sind vorüber, heute Abend (20.45 Uhr/ZDF) geht im Drachenstadion der Vorhang auf für den Klassiker, und wie in einer erstklassigen Wagner-Oper wird die Ouvertüre viel verraten über den weiteren Verlauf der dramatischen Handlung. Spielen die Deutschen den tapferen Ritter, wie Lohengrin? Mein lieber Schwan, die Spannung steigt. „Wir alle sind heiß“, sagt sogar Michael Skibbe, der eher kühle Bundestrainer. „Das Kribbeln in der Magengegend wird von Stunde zu Stunde extremer“, berichtet selbst Rudi Völler, der Bauchmensch, und spricht von einer „angenehmen Aufregung“ und von „positiver Nervosität“.
Klar doch. „Das erste Spiel ist immer wichtig, immer wegweisend“, sagt der Teamchef, wohl wissend, dass er am Montagmittag bei der Ankunft auf dem Flughafen in Porto einen Allgemeinplatz betrat. Es ist aber mehr als eine Fußballerfloskel, die Völler von sich gab. Zwar werden auch am Anfang maximal nur drei Punkte vergeben, doch ein guter Start gibt dem Sieger Rückenwind, stärkt das Selbstbewusstsein, fördert die Moral. Wie beim WM-Titelgewinn 1990 in Rom, als die Nationalmannschaft das Turnier mit einem 4:0-Erfolg gegen Jugoslawien eröffnet hatte. Oder wie vor zwei Jahren, als mit einer 8:0-Gaudi gegen Saudi-Arabien die völlig unerwartete Vize-Völlerei begann.
Heute Abend aber steht keine Operette auf dem Programm, und schon gar keine Komödie. Es wird eine verdammt ernste Angelegenheit werden, wie das große Tamtam vor der Ouvertüre vermuten lässt. Der Hammer Holland ist halt kein Spielzeug. Selbst Michael Ballack, der deutsche Beau am Ball, steht wie ein Euro-Fighter auf der Rampe und meint entschlossen: „Wir müssen aggressiv zu Werke gehen, auch bis zur Grenze des Erlaubten.“ Die allgemeine Befürchtung: Wer verliert, kriegt die Krise. Ein Angstspiel droht. Während sich Bondscoach Dick Advocaat frühzeitig auf Supermann Ruud van Nistelrooy von Manchester United als einzige Sturmspitze festgelegt hat, behandelt Rudi Völler, eifrig sekundiert von Taktik-Freak Michael Skibbe, die Aufstellung wie ein Staatsgeheimnis. Um Spionage auszuschließen wurden gestern Abend beim Abschlusstraining in Porto sogar die Kameraleute und Reporter nach einer Viertelstunde des Feldes verwiesen. Niemand soll wissen, wer wo spielt. Nur so viel verrät Völler vor dem Kick: „Es gibt noch zwei offene Stellen.“
Des Rätsels Lösung im Land der Spekulanten: Vorne wird wohl der Stuttgarter Aufsteiger Kevin Kuranyi allein gelassen, dafür wird das Mittelfeld massiv gestärkt. Der Bremer Meisterspieler Frank Baumann rückt in die Mannschaft und darf Dietmar Hamann beim Abräumen helfen; im Vorwärtsgang sollen Bernd Schneider auf der rechten und Torsten Frings auf der linken Seite Tempo machen und Michael Ballack in aussichtsreiche Schussposition bringen. Der wechselwillige Münchner spielt die zentrale Rolle in den strategischen Überlegungen, doch besonders auffallen möchte er dabei nicht. Ballack ist bereit, sich unterzuordnen – und will ganz altmodisch dem Gemeinwohl dienen. Jedenfalls behauptet er: „Nur über eine mannschaftliche Geschlossenheit haben wir bei dieser Euro eine Chance. Deshalb werde ich mir persönlich keine Ziele setzen.“ Damit bedient sich Ballack brav der allgemeinen Sprachregelung im DFB-Lager.
Denn aus der Not, der mangelnden Spielkunst und fehlenden Genialität, wollen die „Rudisten“ eine alt bewährte Tugend machen. „Am Ende gewinnt oft eine harmonisierende, homogene, intakte Mannschaft gegen ein Team von herausragenden Individualisten“, erklärt Chefstratege Skibbe. Änderungen im großen Stil sind schon deshalb nicht zu erwarten. Also ziehen die deutschen Einheits-Fußballer an diesem anstrengenden Dienstag wieder ihre Vierer-Kette an – obwohl sie matt und so reißfest wie Papier gewesen war bei der peinlichen Generalprobe in Kaiserslautern, dem 0:2 gegen Ungarn. Vor „Jubilar“ Oliver Kahn, der an seinem 35. Geburtstag sein 70. Länderspiel begehen wird, verteidigen auch heute Arne Friedrich und Philipp Lahm, in der Mitte erhalten Christian Wörns und Jens Nowotny nach einer längeren Gesprächstherapie mit Seelenstreichler Völler die Gelegenheit zur Bewährung. Oranje-Star Ruud van Nistelrooy prophezeit: „Wer das erste Tor schießt, der gewinnt.“ Könnte ein echtes Drama werden, dieser Klassiker!