: Ist die SPD noch zu retten?
Ja
Bis zur Bundestagswahl 2006 kann die SPD ihren Niedergang noch stoppen – wenn sie ehrlich zu sich selbst ist und ihren Sinn für Gerechtigkeit beweist
Trotz aller Wahlkatastrophen hat die SPD eine Mission zu erfüllen. Nur eine linksliberale Regierung kann den deutschen Wohlfahrtstaat zukunftsfähig machen. Unionschefin Angela Merkel würde niemals glaubhaft die Rolle von Maggie Thatcher spielen, obwohl ihr der künftige Bundespräsident Horst Köhler eben das empfiehlt. Weder gelänge es der Union, die Gewerkschaften zu zerschlagen, noch sie zu umarmen. Das Ergebnis wäre eine permanente Blockade. Anders bei der SPD: Ver.di-Chef Frank Birske muckt, aber schließlich dreht er bei – die SPD ist ihm allemal lieber als die Union.
Und trotzdem scheitert Rot-Grün an der Aufgabe, den gesellschaftlichen Konsens des späten 20. Jahrhunderts beim Übergang ins 21. zu reorganisieren. Hat die SPD überhaupt eine Chance, die Bundestagswahl 2006 zu gewinnen – oder wenigstens nicht dramatisch zu verlieren? Gibt es eine realistische Hoffnung, mit den Grünen abermals eine Bundesregierung zu bilden?
Bis 2006 sind zwei Jahre Zeit. Genug, um die beiden größten Fehler der vergangenen Jahre zu reparieren – auch ohne darauf zu hoffen, aus Schocks wie Hochwasserkatastrophen oder Kriegen einen Stimmungsumschwung zu kreieren. Die SPD braucht Ehrlichkeit und ein Gespür für Gerechtigkeit.
Beides muss die Partei neu erlernen. Vielleicht ließe sich so beginnen: Was Bundeskanzler Gerhard Schröder suggeriert und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement formuliert hat, trifft nicht zu. Vollbeschäftigung wird es nicht mehr geben – jedenfalls nicht in einem Zeitraum, den heutige Prognosen abdecken. Weiter: Weil mehr Rentner aus dem Sozialsystem finanziert werden, gehen die Leistungen für viele zurück. Dass das alte Modell des rheinischen Kapitalismus und seiner spezifischen Verteilung des Wohlstandes nicht mehr funktioniert, hat zwei Gründe. Die 1950er- bis 1970er-Jahre mit ihren großen Wachstumssprüngen kommen nicht wieder. Durch die Produktivitätssteigerung ist der Verlust an Arbeitsplätzen mitunter größer als ihr Zuwachs. Und wenn die Globalisierung seit 1989 ein Ergebnis hat, ist es dieses: Transnationale Konzerne und große Kapitale haben mehr Bewegungsspielraum gewonnen. Für sie ist es kein Kunststück, die nationale Politik auszubremsen. Es wäre Hybris anzunehmen, mit zwei Milliarden Euro für notleidende Stadtverwaltungen die Spur von 1.000 Milliarden täglicher Finanztransaktionen auf den internationalen Kapitalmärkten ausgleichen zu können. Gegen die Megatrends des globalen Kapitalismus kann die SPD nichts ausrichten. Fällig wäre ein öffentliches Eingeständnis: Leute, wir haben zu viel versprochen. Wir haben nicht die Macht, die wir gerne hätten.
Während diese Botschaft auch bei Konservativen ankommen würde, bedürfte es einer zweiten Botschaft speziell für SPD-Stammwähler. Gerechtigkeit, so sollte sie lauten, ist unter den Bedingungen der Globalisierung nicht möglich. Aber wir probieren es wenigstens. Auch wenn wir im Großen scheitern müssen, versuchen wir es im Kleinen. Was der SPD-Politik heute einen Eindruck von sozialer Kälte verleiht, ist das Technokratische des Vollzugs von Sachzwängen. Doch wo sind die beiden sozialen Renommierprojekte ähnlich dem begonnenen Ausstieg aus der Atomkraft und der Förderung der sauberen Energieproduktion, die den Grünen Glaubwürdigkeit verleihen? Wo sind die 20 Milliarden Euro für neue Lehrer an den oft miserablen Schulen? Wo bleibt eine Vermögenssteuer, die die seit dem Wirtschaftswunder angehäuften Aktiendepots und Konten zur Finanzierung der Sozialversicherung heranzieht? Warum stoppt Finanzminister Hans Eichel nicht die Politik der Steuersenkung, die Wohlhabende stärker begünstigt als Arme?
Die Gerechtigkeitslücke kann die SPD nicht schließen, aber sie sollte den Versuch unternehmen, sie zu verringern. Das wird sie nicht davor bewahren, bei der kommenden Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen eine herbe Abreibung zu erhalten. Und auch die Bundestagswahl dürfte trotz eventuell wiedergewonnener Glaubwürdigkeit ein eher schlechtes Ergebnis für die Sozialdemokraten hervorbringen. Mit einem Wechsel in der öffentlichen Präsentation, mit nachvollziehbaren Belegen für ihre Lernfähigkeit, ließe sich die Wahl 2006 aber immerhin noch für Rot-Grün gewinnen.
Fotohinweis: HANNES KOCH, 42, ist Wirtschaftsredakteur der taz. Seine Spezialgebiete sind Globalisierung und Finanzpolitik. 2001 erschien sein Buch „New Economy“