: Ist die SPD noch zu retten?
Nein
Weder eine Kabinettsumbildung noch ein Linksschwenk werden der Schröder-SPD etwas nutzen. Denn ihr Problem sitzt tiefer. Sie weiß selbst nicht, welchen Sozialstaat sie will. Die SPD kann ihren Absturz nicht mehr verhindern.
Die SPD erlebt seit Sonntagabend etwas, das in der Politik selten ist – einen Augenblick totaler Ratlosigkeit. Normalerweise lösen solche Abstürze Debatten, Streit, Machtkämpfe aus – hier nicht. Die Ratlosigkeit ist flügelübergreifend. Es ist auch kein Rebell in Sicht, der wenigstens den Kanzler stürzen will. Das wäre zwar wenig aussichtsreich, aber immerhin eine Bewegung. Aber nichts davon.
Desaster, Katastrophe, Offenbarungseid. Auch das erprobte Krisenvokabular wirkt blass angesichts der Lage. Etwas ist anders an dieser Pleite. Ja, das Kabinett wird umgebildet, aber nutzen wird das nichts. Das Problem der Schröder-SPD ist nicht Manfred Stolpe. Es sitzt viel tiefer. Sie ist eingesperrt im Gefängnis ihrer eigenen Irrtümer.
Die Schröder-SPD hat zwei kardinale Fehler gemacht: Sie hat seit 1998 auf die Inszenierbarkeit von Politik gesetzt, darauf, dass ihr Medienkanzler die Sache schon reißen wird – und die Basis vergessen. Sie hat auf die Wechselwähler geschielt und das Naheliegende übersehen: ohne Fußtruppen ist keine Schlacht zu gewinnen. Doch wenn die SPD-Basis nicht mehr weiß, warum sie sich Samstag morgens im Nieselregen vor dem Baumarkt von sozialdemokratischen Exstammwählern Schimpfkanonaden anhören soll, die sie im Grunde auch richtig findet – dann ist jede Wahl verloren.
Zweitens: Die Schröder-SPD scheint mit der Agenda 2010 das Programm ihres politischen Gegners zu exekutieren: den Sozialabbau. Mag sein, dass sie dies tut, weil sie dem medialen Reform-Dauerfeuer nicht mehr standgehalten hat. Am Effekt ändert das nichts. Und noch schlimmer als alle Wahlniederlagen ist der rasante Mitgliederschwund, den auch Parteichef Franz Müntefering nicht gestoppt hat.
Der Grund der Krise ist: Die SPD verabschiedet sich in den Augen ihrer Klientel vom Dreh- und Angelpunkt sozialdemokratischen Denkens und Fühlens: dem Sozialstaat. Die Schröder-SPD kann schlicht nicht erklären, warum Praxisgebühr und Hartz 4 nötig sind, um den Sozialstaat zu retten. Dies ist kein, wie die SPD-Spitze monatelang in einem Akt der Selbstsuggestion vergeblich behauptete, „Kommunikationsproblem“. Es geht nicht um eine begriffsstutzige Basis, die den Masterplan nicht kapiert. Die Wahrheit ist: Es gibt keinen Masterplan. Die SPD weiß selbst nicht, welchen Sozialstaat sie will. Deshalb kann sie den Verdacht nicht widerlegen, dass sie dabei ist, nebenbei ihre zentrale politische Idee zu verabschieden.
So wird es weiter bergab gehen. In NRW wird die SPD im Herbst die Kommunalwahlen haushoch verlieren. Dort regiert mit Peer Steinbrück genau der Typus von SPD-Reformrhetoriker, dem man zwischen Moers und Unna misstraut.
Und was wäre mit einer Wende? Was, wenn der Kanzler auf linkspopulistische Ansprache umschaltet? Was, wenn die SPD die Vermögenssteuer wieder einführt und die Erbschaftssteuer erhöht? Dafür ist es zu spät. Dies wäre der paradoxe Versuch, mit einem Trick Glaubwürdigkeit herzustellen. Alles, was jetzt hastig zwecks Hebung der katastrophalen Laune im Ortsverband Duisburg-Hochfeld hervorgekramt wird, steht zu Recht unter Opportunismusverdacht. Ein radikaler Schwenk würde die Sinnkrise der SPD sogar noch vergrößern, weil er noch den Sinn der Opfer, die man Schröders Reformen bislang gebracht hat, dementieren würde.
So steht die Schröder-SPD vor einer Situation, in der sie nur verlieren kann: Klammert sie sich an die Durchhalteparolen, verliert sie – macht sie alles anders, auch.
Die SPD hat ihre Chance verpasst. Als ihr im Herbst 2002 wider Erwarten ein Wahlsieg geschenkt wurde, hätte sie die Architektur einer behutsame Sozialreform plus sozialdemokratische Gerechtigkeitspolitik entwerfen können. So hätte ihr der schwierige Spagat zwischen reformgeneigter Mittelschicht und Stammklientel vielleicht gelingen können. Nun verliert sie die „postmaterielle“ Mittelschicht an die Grünen, und ihre Klientel bleibt bei den Wahlen zu Hause. Zurückkehren wird die heimatvertriebene sozialdemokratische Basis wohl erst wieder, wenn Oppositionsführer Müntefering im Bundestag flammende Reden gegen Angela Merkels Kopfpauschalen-Modell hält.
Fotohinweis: STEFAN REINECKE, 45, ist Autor der taz. Zuvor arbeitete er als Redakteur der Kommentarseite des Berliner „Tagesspiegels“, davor betreute er die Meinungsseite der taz. Zuletzt erschien von ihm eine Biografie über Otto Schily