: Wagner war hier
Das Anhaltische Theater Dessau war einmal das „Bayreuth des Nordens“. Groß und vielfältig ist es bis heute
von Michael Vrzal
Der Vorhang öffnet sich, und es ist Winter. Mit der neuen Schneemaschine wird der Chor in weißes Treiben gehüllt: „Don Carlos“ im Schnee. Später brennen in der Neuinszenierung von Verdis Oper Kerzen, Fackeln und Kreuze. In Kutten gehüllte Mönche treten als Scharfschützen auf. Und es gibt farbenfrohe historische Gewänder zu bestaunen.
Johannes Felsenstein hat „Don Carlos“ im Rahmen des Dessauer Verdi- Schiller-Zyklus neu inszeniert. Der Sohn des legendären Begründers und Leiters der Komischen Oper Berlin Walter Felsenstein ist seit der Wende Generalintendant des Anhaltischen Theaters. Als er die Leitung des Hauses übernahm, war die Einwohnerzahl von Dessau schon unter die magische Großstadtschwelle von 100.000 gesunken. Das Theater in einer schrumpfenden Stadt zu füllen - für diese Herausforderung kam der neue Chef genau richtig.
Man singt deutsch
Aus Familientradition wie aus Überzeugung inszeniert Felsenstein publikumsnah. Deshalb wird in Verdis „Don Carlos“ deutsch gesungen, müssen die Sänger auch als Schauspieler überzeugen. Schließlich soll der Zuschauer die Dialoge verstehen und dem Geschehen folgen können. Der Beifall des Premierenpublikums gibt Felsenstein recht. Nach Ovationen für die Sänger trübt kein einziger Buh-Ruf den Applaus für die Regie - ein Ereignis von Seltenheitswert auf deutschen Bühnen.
Das Dessauer Theater steht noch nicht allzulange an seinem heutigen Platz. Die Nazis ersetzten das 1922 abgebrannte Friedrich-Theater durch einen wuchtigen Neubau. Adolf Hitler persönlich hatte den Auftrag an die Berliner Architekten Friedrich Lipp und Werry Roth vergeben. Die schufen einen ehrfurchtgebietenden Theatermonolithen - ein klassischer nationalsozialistischer Repräsentationsbau mit groben Formen und vielen Säulen. Die Eröffnung fand 1938 in Anwesenheit Hitlers statt. Propagandaminister Goebbels hielt eine Festrede, aufgeführt wurde eine der deutschesten Opern: Webers „Freischütz“. Während des Krieges zerstörten alliierte Luftangriffe 84 Prozent der Dessauer Innenstadt. Das Theater wurde schwer beschädigt, konnte jedoch wieder aufgebaut werden. Die Wiedereröffnung fand 1949 statt.
Das Dessauer Theater kann auf eine über 200jährige Tradition zurückblicken. Richard Wagner lobte die „in dem kleinen Dessau“ gebotene künstlerische Qualität und holte eine Anzahl Dessauer Musiker zu seinen Festspielen nach Bayreuth. Mit vielgelobten eigenen Wagner-Produktionen knüpfte das Theater in der DDR an diese Tradition an. Aus dieser Zeit stammt der Ruf von Dessau als „Bayreuth des Nordens“.
Quote mit Komödie
Heute ist dieser Mythos verblasst. Gleichzeitig schrumpft die mit Magdeburg, Halle und Leipzig um Theaterpublikum buhlende Stadt zusehends. Trotzdem rühmt sich das Haus der besten Auslastung aller anhaltinischen Theater - die Rede ist von fast 200.000 Zuschauern im Laufe der letzten Spielzeit. Die bekommen verstärkt quotenträchtige Operetten und Musicals zu sehen, und auch das Schauspiel gibt sich populär: In der aktuellen Spielzeit setzt es ausser auf Klassiker von Goethe bis Brecht auf die „Kunst der Komödie“ und die Popularität des gebürtigen Dessauers Dieter Hallervorden. Daneben hat sich die Anhaltische Philharmonie regelmäßige Gastspiele bis ins schweizerische Winterthur gesichert. Dass diese Auftritte nicht zuletzt auch der Eigenwerbung dienen, beweist der auswärtige Besucherstamm. Zur Don-Carlos-Premiere etwa reisten Gäste aus alten und neuen Bundesländern an.
Die bundesweite Haushaltskrise hat das Dessauer Kulturleben nur gestreift. Dank langfristiger Finanzverträge konnten Stelleneinsparungen im Theater bislang vermieden werden. Daneben profitiert das Haus von einem rekordverdächtigen städtischen Kulturbudget von 14 Prozent. Demnächst erhält Dessau mit Kammertänzer Gregor Seyffert sogar einen neuen Ballettdirektor mitsamt eigenem Ensemble. Mit Expansion gegen die Krise - auch so lässt sich heute ein Theater führen.