piwik no script img

Archiv-Artikel

Das Tabak rollende Urgestein

Berliner Plattenhändler im Porträt (4): Seit einem guten Vierteljahrhundert betreibt Günther Pehlgrimm in Kreuzberg seinen Laden „Yorck Records“. Noch immer ist er auf Vinyl spezialisiert. Doch den Höhepunkt seiner Arbeitswoche bildet inzwischen das offizielle samstägliche Pop-Quiz mit Freunden

Die verstaubten Regale wirken wie Mahnmale zur Krise der Musikindustrie

VON GERRIT BARTELS

Günther Pehlgrimm zögert. Die Frage, welche Platten er früher außergewöhnlich gut verkauft habe, scheint nicht ganz einfach zu beantworten zu sein. Die jeweils neuen Platten von Johnny Cash oder die von den Stones, das seien ganz sichere Sachen gewesen, sagt Günther Pehlgrimm dann. Ja, und als das Pink-Floyd-Album „Wish You Were Here“ herauskam, „da habe ich, ungelogen, 120 Stück in zwei Stunden verkauft. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“

Günther Pehlgrimm gerät für einen Augenblick fast ins Schwärmen, als er an diesem Montagvormittag hinter dem Verkaufstresen seines Plattenladens in der Yorckstraße sitzt. Er hat sich jedoch schnell wieder im Griff – zu schwärmen oder sich gar wehmütig der guten alten Zeiten zu erinnern ist eigentlich nicht seine Art.

Also greift er in seinen „Apollo“-Tabakbeutel, rollt sich eine Zigarette mit Filter und kommt schnell wieder auf die weniger rosige Gegenwart seines Plattenhändlerdaseins zu sprechen: „Früher haben die Leute noch nach den neuen Platten gefragt, und da wusste man, wie viel man bestellen sollte und dass die dann auch verkauft werden. Heute fragt keiner mehr. Heute bestelle ich gerade mal zwei von irgendeiner Neuerscheinung, wenn überhaupt, und nicht mal die verkaufe ich.“

Spricht Pehlgrimm von „neuen Platten“, meint er das auch so: Die Rede ist von Vinylplatten, CDs liefen bei ihm nie. Aber auch beim Vinyl konzentriert er sich inzwischen auf so genannte Overstock-Ware – auf Platten also, die vom Großhandel billig angeboten werden. „Neue alte Platten“, wie er sagt, denn: „Das Neuwarengeschäft ist schlapp, da dreht sich nichts mehr.“ Er bekräftigt das, indem er zu seinem Schaufenster geht und auf das Cover des neuen Mia-Albums zeigt. Zwei Stück hat er von dem Album bestellt und bislang noch keines verkauft.

Gut sichtbar hängen in seinem Schaufenster die Vinylplattencovern in ein paar Boxen, doch außer Mia und Modest Mouse sind es tatsächlich viele nicht ganz aktuelle Cover von Green Day bis Gregory Isaacs. Im vorderen Verkaufsraum sieht es auf den ersten Blick aus wie etwa in dem Plattenladen des High-Fidelity-Films: oben an der Wand zahlreiche Konzertplakate, darunter die langen Regalreihen mit den Platten oder lediglich den Plattenhüllen und auch ein paar CDs, in einer Ecke ein großer Stapel mit alten und neuen Musikzeitschriften.

Dann aber bemerkt man, dass so manches Regal halb leer und reichlich verstaubt ist, dass sich nur schwer eine Ordnung erschließt, dass es hier von allem etwas, aber nichts so richtig gibt. Der Laden spiegelt wider, dass Günther Pehlgrimm von Spezialisierungen nicht viel hält. Sein Angebot spannt sich von Klassik über Jazz und Rock bis zu Soul und Blues, und auf die Frage nach den eigenen Vorlieben antwortet er eher diffus: „Reggae, Jazz, Beatles. Nur so Rocksachen wie Deep Purple, nee, das nicht.“

Günther Pehlgrimms Laden verströmt einerseits einen charmant musealen Charakter, er wirkt anderseits aber auch eine Idee zu trashig, gewissermaßen verwildert, gebeutelt von der Krise der Musikindustrie und dem angeschlossenen Handel. „Im Nachhinein“, sagt Günther Pehlgrimm, „war es wohl nicht die beste Entscheidung, einen Plattenladen aufzumachen. Aber das konnte man ja damals noch nicht wissen.“

Damals, das war 1977. Da hatte der 1948 in Wilmersdorf geborene Günther Pehlgrimm gerade sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgemacht, als er mit einem Kumpel zusammen „Yorck Records“ eröffnete: „Ich hätte auch studieren können“, so Günther Pehlgrimm, „aber was man damals so studierte, Soziologie, Psychologie oder Lehrer, das wollte ich nicht.“

So sind es „eine Reihe von Zufällen“, die ihn zum Betreiber eines Plattenladens haben werden lassen, weniger weil das ein lang gehegter Traum von ihm war, sondern vielmehr, weil es sich eben so ergab. Pehlgrimm bezeichnet sich als einstigen „Plattensammler“; er verkaufte aber manchmal auch an der Uni mit Erfolg Platten, die er billig als Restposten in Kaufhäusern erwarb, und benötigte bald einen Lagerraum, weshalb ihn die ungünstige Lage in der Yorckstraße nicht störte. Es begann dann mit drei, vier Stunden Öffnungszeit, und das Geschäft entwickelte sich gut; er hatte gute Kontakte nach England, die Indie-Leute kamen in seinen Laden, „und damals gab es ja noch Radio 100“, sagt er heute, obwohl das schon Ende der Achtzigerjahre war.

Den Bruch kann Günther Pehlgrimm nicht genau beziffern, wohl „so in den späten Neunzigerjahren“. Die Erklärungen, die er dafür hat, sind vielfältig und gehören zum Klagelied eines jeden Plattenhändlers: die hohen Einkaufspreise, die geringe Gewinnspanne bei Neuerscheinungen, die bockige Musikindustrie, die Finanznot seiner Stammkunden: „Ich habe ja fast nur noch arbeitslose Kunden, und die, die nicht arbeitslos sind, haben keine Zeit zu gucken.“

Die Rezession also, vielleicht auch die CD-Brennerei, das weiß Günther Pehlgrimm nicht so genau. Leben kann er von seinem Laden jedenfalls nicht mehr, trotzdem er sechs Tage die Woche von zehn bis sechs Uhr da ist und sich keine Aushilfe leistet. Auf Flohmärkte aber geht er nicht, „den Sonntag brauche ich für mich“. Den meisten Erlös erziele er inzwischen bei eBay, sagt er, streicht sich leicht verlegen über seine langen schwarzgrauen Haare und zeigt auf einen Stapel gepackter Päckchen hinter seinem Tresen. Obwohl selbst das nicht einfach sei, „die wollen ja auch Gebühren haben und Pi-Pa-Potsdam“. So reicht es gerade für die Wohnungsmiete und seine Krankenkassenbeiträge: Ohne seine Lebensgefährtin, die ein gutes Auskommen hat und mit der er in Lichterfelde zusammen mit dem gemeinsamen Sohn lebt, ginge es wohl nur schwer.

Trotzdem will Günther Pehlgrimm nicht lamentieren, schon gar nicht will er seinen Laden zumachen: „Besser als zum Sozialamt zu gehen ist es allemal.“ Und schließlich erfüllt der Laden auch eine wichtige soziale Funktion: Es kommen viele Stammkunden, manche fast jeden Tag, und die sitzen dann gern ein Weilchen länger auf den drei, vier Stühlen im hinteren Raum des Ladens.

Der schönste Tag in der Woche für sie und wohl auch Günther Pehlgrimm ist jedoch der Samstag. Da gibt es immer ein Frühstück mit Brötchen, Kaffee und Bier, das dann mit einem richtig offiziellen Popquiz verbunden wird: „Wir stellen uns gegenseitig Fragen wie ‚Wer ist der Drummer von den Stones?‘“, sagt Günther Pehlgrimm, „schwieriger natürlich, klar, aber so in der Art, und es gibt auch einen Preis, eine Platte etwa.“ Fast von selbst versteht es sich da, dass es in diesen Stunden gar nicht weiter schlimm ist, wenn das Geschäft nicht mehr so gut läuft wie einst.