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Archiv-Artikel

themenläden und andere clubs Ermüdend legale Graffiti erfordern Widerstand, gegen starkes Bier kann man sich aber nicht wehren

Mut-Antrinken mit Boney M.

The young have problems, many problems, they need an understanding heart, why don’t they help us, try to help us, before this clay and granite planet falls apart???, möchte man doch klagend singen, wenn man sich so umguckt, in der Welt. Ein Glück, gab es Gene Pitney, der das schon mal genau richtig formuliert hat. Und ein Glück, gibt es ganz viele verständnisvolle Senatsmitglieder, die erlauben, dass die vormals gelb-schwarze Feuerwache an der Wiener Straße geradezu ermüdend legal mit Graffiti vollgesprüht wurde. Wenn ich jetzt aus dem Fenster spanne, gucke ich auf Godzilla und Comic-Feuerwehrleute und hässliche Airbrush-Flammen, na, vielen Dank.

An der Ecke Wiener/Lausitzer Straße, also sozusagen vis-à-vis der Ecke, die jetzt jeder Fisselhöveder als den Ort kennt, wo die blauen Bohnen fliegen, haben die Graffiti-Sprayer zwei etwa 40 cm hohe Schutzanzug-Figuren hinterlassen, die ihre Wasserschläuche von beiden Seiten auf eine ganz minimales Flämmchen halten. Und genau da, wo’s quasi brennt, wollten wir neulich Nacht mit besoffenem Kopf ein Barbiepüppchen mit sich räkelnd hoch gereckten Armen anbringen. Ich habe nämlich auch many problems und brauche ein understanding heart. Und ich stehe auf Kunst am Bau. Leider war unser Akkubohrer so laut, dass nach zehn Sekunden Bohren gleich ein paar echte Feuerwehrleute aus ihren Kartenklopp-Warteräumen herauswuselten und uns unser Projekt freundlich auszureden versuchten. Der Akkubohrer war aber eh zu schwach und schaffte nur ein minimales Löchlein in der harten Wand. Wenn ich das nächste Mal genug Mut angetrunken habe und es dunkel ist, nehme ich Sekundenkleber.

Mut antrinken, womit ich sozusagen zu meinem Stichwort komme, habe ich bei meinem kurzen Russland-Aufenthalt unter einem ganz neuen Aspekt kennen gelernt: In St. Petersburg gibt es Biersorten, die nach dem Alkohol-Gehalt benannt werden, Baltica 3 bis 9 nämlich, wobei das Baltica 3 nur mit damenhaften drei Komma irgendwas Promille aufwartet, das Baltica 9 dagegen fast blind macht. Anfangs war mir das nicht klar, und ich schob meinen schwankenden Gang, das Sabbern und die amnestische Aphasie nach nur drei Bier auf die Luftveränderung. Doch schnell fand ich mich in die Kultur ein und nutzte die unterschiedlich starken Drogen hernach wie ein Alter. Man spart auch Geld: Nur ein paar wenige Rubel teurer ist das Starkbier, und es macht einen mutig wie Ra-Ra-Rasputin, Lover of the Russian Queen. Der, ja, das habe ich mir noch mal vom Fachrussen erklären lassen, gleich drei Mal umgebracht wurde, damals, nachdem er versucht hatte, die Bluterkrankheit des letzten Zarenbubs mit Okkultismus zu heilen. Ist ja auch eine Schnapsidee, um beim Thema zu bleiben, wenn das so einfach wäre, dann würde man doch wohl als Erstes ein paar systemstabilisierende Zauber aussprechen, damit keiner mehr der Zarenfamilie ans Leder, also an den Zobel will. Drei Mal musste man den Mann von der Welt schaffen, 1. vergiften (nicht mit Rasputin, Leute, der war vom Baltica 27 abgehärtet und merkte vom Gift so viel wie Jelzin von einer Berliner Weißen), 2. erstechen, und sicherheitshalber auch noch ab in die Newa mit ihm.

Wieder drängt sich Gene Pitney in das Gedankenbild des großen, bärtigen Russen mit den brennenden Augen: How can we keep love alive, how can anything survive, when these little minds tear you in two?? „Town without pity“ ist definitiv eines der schönsten und wahrsten Lieder, die je ein verzweifeltes Gehirn ersonnen und eine cremeweiche Stimme gesungen hat, egal ob über Berlin oder St. Petersburg. Viel besser übrigens auch als jenes scheußliche „Ra-Ra-Rasputin“ in der Version von Boney M. Und wer das nicht glaubt, der soll erst mal ein paar Baltica 7 trinken, dann wird er es sehen. JENNI ZYLKA