Kopftuchgründe

Eine Lehrerin möchte ihr Haupt bedecken – das bringt Frauenrechtlerinnen in Rage. Zwar kann das Tuch als Symbol des Zwangs gelten, es gibt aber auch andere Bedeutungen

Ludin wird kritisiert, weil ihr christliche Grundlagen fehlen – und sie die staatliche Neutralität verletzt

Das bevorstehende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Tragen des Kopftuchs im Schuldienst ist für viele Anlass, sich für die Emanzipation der Frauen einzusetzen. Alice Schwarzer kämpft unter anderem im Spiegel, Viola Roggenkamp in der taz für das Kopftuchverbot – denn sie wissen, dass das Kopftuch ein Symbol für die Unterdrückung der Frauen ist, und zwar in einer Form, die in ihrem Totalitarismus nur mit Nationalsozialismus und Stalinismus vergleichbar sei.

Die deutschen Feministinnen wissen offenbar genau, was das Kopftuch bedeutet, und so brauchen sie auch nicht weiter nachzufragen. So weiß Alice Schwarzer: Spricht Frau Ludin von ihrem Recht auf Religionsfreiheit, wird sie im Grunde von Milli Görus gesteuert und peilt als eigentliches Ziel an, die Scharia in Deutschland einzuführen. Somit erübrigt sich auch nachzuprüfen, wie Frau Ludin mit ihren Schülerinnen während ihrer Referendariatszeit umgegangen ist. Denn auch ihr Verhalten ist vermutlich alles Täuschung.

Demgegenüber sollten wir jedoch – einem guten feministischen Brauch folgend – die betroffenen Frauen selbst zu Wort kommen lassen. Für Frau Ludin etwa ist das Kopftuch nicht in erster Linie Symbol für das Geschlechterverhältnis, sondern Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung. Gerade dass sie sich zu ihrer Religion öffentlich bekennt, obwohl sie mit Diskriminierungen rechnen muss, beweist ihrer Meinung nach ihre persönliche Eigenständigkeit. Ihre Berufstätigkeit ist ihr sehr wichtig, allerdings nicht um den Preis der Selbstverleugnung.

Inzwischen gibt es auch eine Reihe von Untersuchungen zu der Frage, warum junge muslimische Migrantinnen in Deutschland sich vermehrt für das Tragen eines Kopftuchs entscheiden. Meist geht dieser Entscheidung eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Islam voraus. Dabei geht es diesen Frauen vor allem darum, für sich einen individuellen Standort zu finden zwischen der Tradition ihrer Eltern und der Kultur der Aufnahmegesellschaft sowie einen eigenständigen Bezug zu weltanschaulichen und religiösen Fragen. Diese „neoislamische Weiblichkeit“ (Nökel) versucht, den Gegensatz zwischen der traditionellen Weiblichkeit und der modernen Frau zu lösen und sich weder den elterlichen Normen zu unterwerfen noch an die deutsche Gesellschaft anzupassen.

Ähnliche Ergebnisse finden wir bei Forschungen aus Großbritannien oder der Türkei. Auch die jungen Türkinnen, die sich seit den 80er-Jahren vermehrt für das Kopftuch entschieden haben, verstehen dies nicht als eine Fortsetzung der Tradition. Sie ahmen keineswegs einfach ihre Mütter nach, sondern setzen sich mit ihrer Hinwendung zum Islam eher von ihren Familien ab. Insofern kann man hier mit der Soziologin Nilüfer Göle von einer aktiven Inbesitznahme kultureller Symbole durch die Frauen sprechen. Sie überschreiten den vorgegebenen Rahmen und versuchen gleichzeitig, sich in der Gemeinschaft rückzuversichern. Die Gefahr einer solchen Strategie ist allerdings, von der Gemeinschaft wieder vereinnahmt und als Frau zurückgesetzt zu werden. Insofern ist die Indienstnahme der Tradition für die Frauen ein riskantes Unterfangen.

So ist es keine Frage, dass das Kopftuch auch Terror, Frauenunterdrückung und religiösen Fanatismus symbolisieren kann. Ebenso kann es aber auch unhinterfragten Konventionalismus und Traditionalismus ausdrücken. Oder es kann auch Ausdruck einer selbstbestimmten Religiosität und kultureller Selbstverortung sein, und vermutlich noch vieles mehr.

Wie sehr es in der deutschen Kontroverse gerade um die Form einer selbstbewussten Traditionsbildung geht, zeigt sich daran, dass das Kopftuch nicht zu stören scheint, wenn es die türkische Putzfrau oder die deutsche Bäuerin trägt. Erst wenn junge Frauen auf ihre eigene Weise ein Terrain betreten, das deutschen Mittelschichtfeministinnen vorbehalten zu sein scheint, erregt es Anstoß.

Die Paradoxie in diesem Fall liegt ja darin, dass eine Frau im Namen ihrer Emanzipation an der Ausübung ihres Berufs gehindert wird. Die Forderung nach Freiheit kann also selbst Unterdrückung legitimieren. Deshalb bedarf es einer genauen Prüfung, von welchem Standort und in welchem Interesse solche Forderungen gestellt werden. Dem wird jedoch von Alice Schwarzer, wie etwa auch von einem Jesuitenpater aus Kairo, der in der taz (30. 6. 2003) als Autorität in Sachen islamisches Kopftuch präsentiert wird, entgegnet, dass es „den Deutschen“ an Selbstbewusstsein fehle und sie aufgrund ihrer Angst vor Auseinandersetzung falsch verstandene Toleranz pflegten. Das lässt man sich nicht gerne nachsagen.

Gerade dass sich Ludin zu ihrer Religion bekennt, beweist ihrer Meinung nach ihre Eigenständigkeit

Dennoch wäre angesichts dieser unerschüttlichen Gewissheit, was das Kopftuch bedeutet, etwas kritische Selbstreflexion angebracht. Schließlich ist die Debatte, wie solche Grundwerte wie Freiheit und Gleichheit der Menschen im jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext adäquat umgesetzt werden können, so alt wie die Deklaration der Menschenrechte selbst. Sind sie doch oft genug von denen für ihre Interessen in Dienst genommen worden, die sie als universal erklärt haben. Das haben auch und gerade die europäischen Frauen erkannt, die sich gegen die Menschenrechte als Männerrechte zur Wehr zu setzen hatten. Die Gefahr des Universalismus der Menschenrechte für die Funktionalisierung westlicher Dominanz ist abzuwägen gegen die Gefahr eines Kulturrelativismus, der häufig die lokalen Herrschaftsstrukturen unterstützt. Vielleicht hätte man in Bezug auf die Kopftuchdebatte auch die Diskussionen zur Kenntnis nehmen können, die spätestens seit Beginn des letzten Jahrhunderts zwischen den verschiedenen Vertreterinnen der islamischen Frauenbewegungen darüber geführt wurden.

Im Übrigen fragt sich, warum, wenn die Gleichstellung der Menschen ein so vordringliches Anliegen ist, kein Aufschrei der Entrüstung durch das Land geht, dass die christlichen Kirchen gerade dabei sind, die Verabschiedung des Antidiskriminierungsgesetzes aufs Spiel zu setzen, weil sie nicht zulassen wollen, dass Religion als Diskriminierungstatbestand in das Gesetz aufgenommen wird – entgegen den EU-Richtlinien.

Und so überrascht es nicht, dass Frau Ludin einmal das Tragen des Kopftuchs verboten wurde, weil sie die SchülerInnen nicht nach christlichen Grundsätzen erziehen könne, so wie sie in der baden-württembergischen Landesverfassung verankert seien, während beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim sie mit dem Argument zurückgewiesen wurde, dass sie mit dem Kopftuch als religiösem Symbol ihre Neutralitätspflicht als Beamtin verletze. Das heißt, das Christentum gilt in dieser Gesellschaft gewissermaßen als neutral. Es wären also sicherlich eine Unzahl von Gerichtsverfahren anhängig, wenn man mit demselben Eifer dem Verdacht antiemanzipatorischer Einstellungen bei deutschen christlichen Männern und Frauen nachginge. BIRGIT ROMMELSPACHER