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Archiv-Artikel

Vererbte Fluchtreflexe

Keine Frage von Schuld oder Unschuld mehr: Mit seinem neuen Roman „Die Unvollendeten“ zeigt Reinhard Jirgl, dass man sich auch ganz ohne weinerliche Selbstgerechtigkeit mit der Vertreibung der Deutschen auseinander setzen kann. Ein Porträt

Reinhard Jirgl: „Es geht darum, welcher Machteffekt welche Reaktion auslöst“Jirgl spürte bei seinen Verwandten die „emotionalen Knotenpunkte“ auf

von CRISTINA NORD

Als Reinhard Jirgls Roman „Die atlantische Mauer“ im Frühjahr 2000 erschien, machte sich der Rezensent einer überregionalen Tageszeitung die Mühe und zählte, wie oft die Figuren lachen. Sein Ergebnis lautete: ein einziges Mal. Das weckte Verdacht. Ließ es sich hinnehmen, wenn ein Schriftsteller sich in einer düsteren, kulturpessimistischen Haltung einzukapseln schien? Wenn ihm so wenig an seinen Figuren lag, dass er ihnen nicht mehr als ein jämmerliches Lachen auf 450 Romanseiten gönnte und sie sie ohne Erbarmen durch die schmutzstarren Niederungen der conditio humana trieb?

Reinhard Jirgl lacht. Dass einer akribisch auflistet, wie oft Romanfiguren etwas tun oder lassen, amüsiert ihn. „Was unterscheidet den Menschen vom Tier?“, fragt er, indem er den römischen Dichter Petronius zitiert. „Das Lachen. Manche haben nichts anderes.“ Das Lachen Jirgls wird lauter. Eben noch war er befangen, weil das Mikrofon auf dem Kaffeehaustisch stand, den Gedanken und Sätzen im Weg. Jetzt ist das Mikrofon vergessen. „Ich bin niemand, der seine Dunkelheitsfantasien im Text auslebt.“ Eher jemand, der sich auf die Kunst des dialektischen Denkens versteht: Wenn er das Düstere in den Vordergrund rückte, sagt Jirgl, würde er „die gesellschaftliche Gewalt“ bejahen. „Mir geht es aber gerade darum, durch die Zuspitzung von Situationen die unlebbaren Momente hervorzuheben, um sie zu verneinen. Ich verneine, was diese Menschen erniedrigt.“

Reinhard Jirgl verneint, indem er schildert. Seine Romane ermitteln, was der Nationalsozialismus, was die DDR und was der Kapitalismus unserer Tage mit den Menschen angestellt haben und anstellen. Dabei geht es nicht um die große, politische Perspektive, sondern darum, wie die Zeitläufte subkutan wirken. Jirgl stellt dar, wie die Verwerfungen der deutschen Geschichte die Lebenspläne der Figuren aufsaugen und entstellt ausspucken. Er tut dies hartnäckig und mit einem gewissen Furor, abgewandt von den intellektuellen Moden seiner Zeit.

Für „Die Unvollendeten“, den neuen Roman, scheint Letzteres nicht zu gelten. Denn das Buch wählt die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus dem Sudetenland zum Hintergrund, mithin ein Thema, das im Augenblick en vogue ist. Auf den zweiten Blick verhält es sich umgekehrt: Die Mode kam zu Jirgl, nicht Jirgl zur Mode. Die wesentlichen Fragen in „Die Unvollendeten“ lauten: Welche Effekte zeitigt der Verlust der Heimat in den Köpfen und Körpern einer Familie aus der Stadt Komotau, dem heutigen Chomutov? Und wie setzen sich diese Effekte in der Generationenfolge fort? Vom Spätsommer 1945 bis in die Gegenwart entrollt sich der Text, er macht Station in Komotau, Reitzenhain, Magdeburg, einer fiktiven Kleinstadt namens Birkheim und schließlich in Berlin. Die Hauptfiguren des Romans sind: die Urgroßmutter Johanna, die Großmutter Hanna, deren Schwester Maria, die Mutter Anna und schließlich der Enkel Reiner, der sich, als der Roman schon recht weit fortgeschritten ist, als Ich-Erzähler zu erkennen gibt. Einen „Abkömmling tierhaften Fluchtreflexes“ nennt er sich einmal, und das ist nicht das Einzige, was seine Vorfahren an ihn weitergegeben haben.

„Die Unvollendeten“ ist reich an autobiografischen Elementen, sagt Jirgl. „Ein Großteil der Geschichten, ein Großteil des Rohmaterials kommen aus der eigenen Familiengeschichte.“ Wie der Ich-Erzähler war Jirgl bei der Großmutter in einer Kleinstadt in der Altmark aufgewachsen, bevor er 1963, im Alter von zehn Jahren, nach Ostberlin zu seinen Eltern zog; wie der Ich-Erzähler erlernte Jirgl einen Beruf, von dem er einer anderen Aufgabe wegen abließ. Reiner ist Zahnarzt und wird Buchhändler. Jirgl hatte als Elektroingenieur und als Beleuchtungstechniker an der Berliner Volksbühne gearbeitet, bevor er sich Mitte der 90er-Jahre zur Existenz des freien Schriftstellers entschloss. „Alles, was man schreibt, ist autobiografisch, ob man will oder nicht.“

Doch hätte dies keine Evidenz, veränderte sich das biografische Material nicht im Schreiben. Bei Jirgl entsteht aus den Fragmenten der eigenen Vita und der seiner Vorfahren ein präzises, dichtes Kunstwerk. Aus der Sprache holt er heraus, was diese an Möglichkeiten bereithält. Dazu gehören die experimentelle Ortografie und Interpunktion, ein streckenweise dem Mündlichen entlehnter Stil und eine Collagetechnik, die innere Rede, Artikel aus dem Neuen Deutschland, Echos vergangener Dialoge und mythologische Fragmente montiert und darüber hinaus ein Herz für Kalauer hat. Erstaunlich daran ist, dass sich dieser komplizierte Aufbau dem Erzählfluss nicht in den Weg stellt, sondern ihn beschleunigt: Je mehr er sich an den Hindernissen reibt, desto drängender gerät er. Manche Passagen – etwa eine Auseinandersetzung zwischen Hanna und ihrer Zimmerwirtin in Magdeburg über ausstehende Mietzahlungen – haben eine so treibende Kraft, dass man staunend, wie mit offenem Mund, liest.

Wer daran gewöhnt ist, beim Gedanken an die nach dem Krieg Vertriebenen Revisionismus zu wittern, könnte argwöhnen: dass Jirgl von der Vertreibung erzählt, um darzulegen, wie sehr die Deutschen am Krieg und dessen Folgen gelitten haben. Doch das ist nicht der Fall. Nichts in „Die Unvollendeten“ hat die weinerliche Selbstgerechtigkeit, wie man sie vom Bund der Vertriebenen kennt. Nichts die Einseitigkeit, die sich gerade in diesen Tagen beobachten lässt, da die Organisation die Einrichtung eines Zentrums gegen Vertreibung voranbringen und dabei keinen Gedanken auf polnische, ukrainische oder weißrussiche Vertriebene verwenden möchte.

Wie gelingt es Jirgl, sich dieser seinem Sujet angehängten ideologischen Fracht zu entledigen? Nicht indem er die Orte, an denen seine Vorfahren lebten, bereiste. Komotau, das heutige Chomutov? „Kannte ich nicht, kenne ich nicht und will ich auch nicht kennen.“ Das wäre der Schritt, der ihn so tief in die Familiengeschichte hineintreiben würde, dass er den Weg zurück in die Literatur nicht mehr fände. „Das, was es damals gab, das gibt es ja nicht mehr. Ich müsste meine Sprache verlassen und würde mich einer fremden Materialsprache ausliefern.“ Die Anschaulichkeit, die viele der in „Die Unvollendeten“ geschilderten Situation haben, schuldet sich also gerade nicht der Anschauung, sondern der Vorstellungskraft. Wenn das Komotau des Jahres 1945 in der Zeit versunken ist, hilft es nichts, das Chomutov des Jahres 2001 zu besuchen. Jirgl hörte sich stattdessen die Erzählungen seiner Verwandten an. „Ich habe eine Art Archiv angelegt“, er weist auf das Mikrofon und den MD-Player, „so wie wir jetzt hier sitzen: Tonband, Mitschnitt, Protokoll nach dem Gespräch.“

Dabei war es wichtig, nicht zu werten. „Es geht nicht mehr um ‚schuldig‘ oder ‚nicht schuldig‘, sondern darum, welcher Machteffekt welche Reaktion auslöst“, sagt Jirgl – und dass er diese Perspektive in den Schriften Michel Foucaults entdeckt und schätzen gelernt habe. „Ich lasse Geschichten erzählen. Mit geschichtlichen Dokumenten und Materialien habe ich mich absichtlich erst dann beschäftigt, nachdem ich das Buch fast fertig geschrieben hatte, um nicht von vornherein einen falschen Objektivwert mit hineinzubringen.“ Weder lässt der Text einer seiner Figuren eine aufrechte Haltung, mit der sie vorbildlich vor den Widernissen der Zeitläufte bestände. Noch lädt er einer anderen Schuld und Verantwortung auf. Stattdessen heißt es: „das waren Menschen deren Blick mürrisch übelnehmerisch & kirr – vielleicht weil sie, ob Tschechen od Deutsche, diesen Krieg überlebt hatten u: fortan im noch größeren Elend saßen als zuvor, mit ihrem sogenannten Leben nicht zu leben, aber mit Leben aufzuhören ebensowenig wußten, und in die rußig stinkende Luft immer neuer Schweiß zu immer neuen Demütigungen, die nichts als Wiederkehr der alten Demütigungen waren“.

Während er seinen Verwandten zuhörte, gelang es Jirgl, die „emotionalen Knotenpunkte“ aufzuspüren, und er fand heraus, wo und warum die Erzählungen stockten. Diese Augenblicke übertrug er via Chiffren in den Text: „DAS SCHWARZE O“ oder „WEIHRAUCH U STAUB“ oder „HAMMERSCHLÄGE“. „Das müssen für Sie Zeit-Tunnel sein zwischen Heute u: Damals, Orte, an denen Alles wiederkehrt“, heißt es einmal, als der Ich-Erzähler schon im Hospital liegt und sein Zimmergenosse ihn diese Wörter hat murmeln hören. Jirgl seinerseits spricht von „Schmuggelgut“: Diese Wörter transportieren, was sich nicht aussprechen lässt. Dasjenige zum Beispiel, was der 18 Jahre alten Anna, der Mutter des Erzählers, nachts in den Sammellagern widerfahren ist, bevor ihr die Flucht nach Sachsen gelingt. „Anhand von verbalen Nichtigkeiten schmuggele ich den ganzen Inhalt durch, den ich ja unbedingt erzählen muss.“

Ganz so nichtig indes sind diese Wörter nicht: Anhand des „SCHWARZEN O“ beispielsweise entwickelt „Die Unvollendeten“ eine motivische Kette. Sie umschließt unter anderem die von schlechtem Essen und mangelnder Pflege entstellten Mundhöhlen der Flüchtlinge, das Grab des tschechischen Großvaters, die Augenhöhle eines Landarbeiters und eine sexuelle Begegnung, an die sich der Ich-Erzähler erinnert. Letzteres geschieht, kurz bevor der Roman an seinem Ende ankommen und die Figur auf grausame Weise ihre Heimat finden soll. „Das Vollenden ist eigentlich ein kleiner Tod“, sagt Jirgl – „so wie es eigentlich auch keinen Grund gibt, mit einem Text aufzuhören.“

Reinhard Jirgl: „Die Unvollendeten“, Hanser Verlag, München u. Wien, 256 Seiten, 19,90 Euro