Jedes Detail gleich scharf

Die erste künstlerische Avantgarde Großbritanniens im Kontext der Mitte des 19. Jahrhunderts boomenden Naturwissenschaften: Mit „Natur als Vision“ präsentiert das Alte Museum die erste große Präraffaeliten-Ausstellung in Berlin, konzentriert sich aber lediglich auf den Teilbereich Landschaftsmalerei

VON MARCUS WOELLER

Manche Kunst riecht ein bisschen streng. Nicht im olfaktorischen Sinn. Sie ist eher anrüchig in der kunstwissenschaftlichen Anschauung oder berüchtigt für ihr formales oder inhaltliches Wesen. Der Kunst der „Präraffaelitischen Bruderschaft“ haftet ein solcher Ruch an, sentimental bis kitschig zu sein, ein Irrweg der malerischen Vormoderne, ein Abstellgleis der Spätromantik. Die lose Gemeinschaft mit dem sperrigen Namen formierte sich 1848 um die Londoner Maler John Everett Millais, William Holman Hunt und Dante Gabriel Rossetti. Außerhalb Großbritanniens sind ihre Werke in kaum einer großen Sammlung vertreten. Nach einem Gastspiel in der Ausstellung „Fontane und die bildende Kunst“ 1998 in der Nationalgalerie am Kulturforum erfreut sich das Alte Museum nun der ersten großen Schau der Präraffaeliten in Berlin. Doch gewährt die Übernahme von der Tate Britain in London keinen Blick auf das gesamte Spektrum, sondern fokussiert auf den Teilbereich Landschaftsmalerei. Unter dem programmatischen Titel „Natur als Vision“ bemühen sich die Kuratoren Allen Staley und Christopher Newall (in Zusammenarbeit mit Moritz Wullen von der Nationalgalerie und Katrin Herbst vom Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Uni) um eine Neubewertung präraffaelitischer Kunst im Kontext der damals boomenden Naturwissenschaften.

Die Präraffaeliten hatten den Anspruch, die Malerei zu revolutionieren, die Darstellung des Gesehenen zu erneuern. Als letzte Ansprechpartner einer nicht durch Artifizialität und akademische Einengung verdorbenen Kunstgeschichte sahen sie jene Künstler vor Raffael an, die nicht durch die strukturellen und ideellen Mühlen der Renaissance gegangen waren. Viel entscheidender als die Liebe der präraffaelitischen Maler zum Spätmittelalter aber war ihre Zeitgenossenschaft mit der Revolutionierung von Sehen und Wahrnehmung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit der Erfindung der Fotografie radikalisierte sich die visuelle Wahrnehmung, mit der evolutionsbiologischen Forschung Darwins und den neuen Erkenntnissen der Pflanzenkunde, Geologie und Meteorologie reformierte sich das Wissen um das Wahrgenommene. Vor ebendiesem Hintergrund und unter der Schirmherrschaft des Universalgelehrten John Ruskin, der die junge Künstlergilde theoretisch unterfütterte, hieß es dann: Ab in die Natur und rejecting nothing, selecting nothing! Zur Ausrüstung der ersten ausdrücklichen Freiluftmaler gehörten neben den herkömmlichen Malutensilien auch Fernglas und Mikroskop, Gesteinsatlas und botanisches Bestimmungsbuch.

Mit wissenschaftlicher Genauigkeit und Akribie im Detail vertiefte sich etwa Millais in seinem Bild „Ophelia“ in die natürliche Ufervegetation am Hogsmill River in Ewell, Surrey. Auch den sich auflösenden Blumenkranz der ertrinkenden Hamlet-Geliebten malt er botanisch exakt nach der Shakespeare’schen Pflanzenauswahl. Radikal sind dabei die Genauigkeit der Details und die Abkehr vom akademischen Standard, die Hintergrundelemente dem menschlichen Drama unterzuordnen. Hier illustriert nicht mehr die Umgebung die Figur, stattdessen wird der literarische Kontext in einer „realistischen“ Natur aufgeführt. Seine Meisterschaft auf dem Gebiet der naturalistischen Feinmalerei demonstriert John William Inchbold in seinen Küstenlandschaften oder der „Kapelle von Bolton“. Vom Vordergrund der verwitterten und von Flechten überzogenen Grundmauern bis hin zur efeubewachsenen Klosterruine im Hintergrund stellt er jedes Detail gleich scharf dar. Das geht auf Kosten der perspektivischen Richtigkeit. Ergebnis ist ein beeindruckendes, vor Kleinteiligkeit all over flirrendes Architektur-Natur-Porträt. Im Verständnis der etablierten Kunst um die Jahrhundertmitte war diese Art zu malen einigermaßen überspannt. Regelrecht exzentrisch musste da die extreme Farbigkeit des zunehmend mythische Landschaften malenden William Holman Hunt wirken. Mit einem grellbunt detaillierten Landschaftsporträt vom salzverkrusteten Strand des Toten Meers („Der Sündenbock“) war er Mitte der 1850er-Jahre von einer Nahostreise nach London zurückgekehrt. Eingeknickten Hufes präsentiert sich der alttestamentarische Ziegenbock dem Betrachter und versucht, die ihm symbolisch aufgeladenen Verfehlungen der Gemeinde abzuschütteln.

Auch hier steht die bis an den Horizont hyperrealistisch dargestellte Landschaft gleichberechtigt neben der Kreatur. Hunt blieb zeitlebens dieser absoluten Detailtreue verpflichtet, während die meisten anderen präraffaelitischen Künstler der illusionistischen Malerei bald den Rücken kehrten. Denn die Absicht, das wahrhaftig Natürliche in der mimetischen Abbildung zu verwirklichen, brachte paradoxerweise besonders künstlich wirkende Bilder hervor. Das war nicht beabsichtigt und führte zu einem Auseinanderdriften in verschiedene ästhetische Richtungen.

Dieser Wendepunkt wirft die Frage auf, weshalb die Ausstellungsmacher das weite Spektrum der präraffaelitischen Bewegung auf die Landschaftsmalerei beschränken. Während sie die gegenseitige Befruchtung von Technik, biowissenschaftlicher Erkenntnis und künstlerischer Eigenständigkeit innerhalb der Naturdarstellung überzeugend benennen, klammern sie wichtige Bereiche aus. So lässt die Schau die figurative und ästhetizistische Malerei des Mitgründers der „Prä-Raphaelite Brotherhood“, Rossettis und seines Umfelds, völlig aus. Mit ihren elegisch-allegorischen Frauenbildnissen wandten sie sich sehr bald von der Pedanterie der Illusionsmalerei ab. Realismus und Impressionismus sind ja nicht die einzigen logischen Entwicklungslinien der präraffaelitischen Kunst, wie es die Ausstellung suggeriert. Der Symbolismus und die beginnende bildliche Abstraktion des späten 19. Jahrhunderts wären ohne die formalen Errungenschaften der Präraffaeliten gar nicht denkbar. Da galten sinnlichere Werte wieder mehr als wissenschaftliche Fakten.

Die Unterschlagung dieses Aspekts der ersten künstlerischen Avantgarde Großbritanniens mag so gar nicht zu dem im Katalogvorwort für die Ausstellung beanspruchten vorurteilsfreien wissenschaftlichen Blick passen. Dass die Ausstellungsmacher nicht auch die Seite des Präraffaelismus neu zu beleuchten wagen, die etwas schwülstig und süßlich riecht, bleibt ein Manko.

Bis 5. September, Katalog 12,90 €