Ein Gipfel mit viel zu vielen Kandidaten

EU-Ratspräsident Bertie Ahern hatte in monatelangen Verhandlungen den Boden für einen erfolgreichen Abschluss der Verfassungsverhandlungen bereitet. Doch dann kam ihm der Streit um den künftigen Kommissionspräsidenten dazwischen

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Eigentlich lief das Ankunftsritual vor dem Gipfelgebäude in Brüssel gestern Morgen ab wie immer: Dicht gedrängt hinter Absperrungen die Journalisten zu beiden Seiten des VIP-Eingangs. Laute Begrüßungsrufe, um die Herrschaften zu einem Lächeln und einem Blick in die Kamera zu bewegen. Doch aus dem Gemurmel hob sich die klare Stimme einer jungen britischen Reporterin ab. Achtmal stellte sie die Frage: „Würden Sie gern Präsident der Europäischen Kommission werden?“ Da wurde deutlich, was bei diesem Treffen anders war als sonst. Es war eine Konferenz der Kandidaten.

Die Journalistin fragte Kanzler Schüssel aus Österreich, Frankreichs Außenminister Barnier, Premier Durão aus Portugal, den dänischen Regierungschef Rasmussen, Gastgeber Ahern, Belgiens Chef Verhofstadt und den scheidenden Präsidenten des Europaparlaments, den Iren Cox. Alle waren nach der Nachtsitzung weiter im Rennen.

Natürlich fragte sie auch den Luxemburgs Premier Juncker, der seinen Standardsatz wiederholte: „Sie müssen sich daran gewöhnen, dass es Politiker gibt, die nach der Wahl das tun, was sie vor der Wahl versprochen haben“, was bedeutet, dass Juncker sich bisher nicht hat umstimmen lassen.

Spätestens in der Nacht von Donnerstag auf Freitag muss dem irischen Regierungschef Ahern klar geworden sein, dass ihm bei seiner sorgfältigen Vorbereitung des Treffens ein gravierender Regiefehler unterlaufen war. Zwar hatte er nach monatelangen Verhandlungen mit den 25 EU-Mitgliedern zwei Papiere vorgelegt, die als Meisterstücke der Diplomatie bezeichnet werden müssen. Ein 90-seitiges Werk mit den geklärten Verfassungsfragen. Und einen sehr viel kürzeren Text mit den wenigen offenen Punkten. Mit dem Schock der schwachen Wahlbeteiligung in den Knochen und der Erkenntnis, dass ein gescheiterter Verfassungsgipfel dem Image Europas weiteren Schaden zufügen würde, hätte Ahern die Kollegen auf eine Kompromisslinie einschwören können. Doch die leidige Personaldebatte störte die Harmonie so nachhaltig, dass aus Delegationskreisen plötzlich wieder häufiger der Satz geknurrt wurde: „Nichts ist beschlossen, bevor nicht alles beschlossen ist.“

Die beiden Schwergewichte Schröder und Chirac hatten die Sache nicht besser gemacht mit der erneuten Erklärung, jeder könne in allen Fragen den jeweils anderen vertreten. Im Oktober hatte der deutsche Kanzler den Gipfel vorzeitig verlassen, diesmal fuhr der französische Premier mal eben zu einem Abendtermin nach Paris. So sprach Schröder beim Abendessen für beide, als er noch einmal erklärte, Verhofstadt sei die beste Wahl als Nachfolger für Kommissionspräsident Prodi. Schon vor dem Treffen hatten sich Schröder und Chirac auf den Liberalen verständigt und mit dieser Selbstherrlichkeit ein weiteres Mal die kleinen Länder verärgert, die ansonsten in dem belgischen Kandidaten aus einem kleinen Mitgliedstaat vielleicht einen Sachwalter ihrer Interessen hätten sehen können.

Gastgeber Ahern versuchte gestern in den Arbeitssitzungen weiter Optimismus und gute Laune zu verbreiten. Doch die Stimmung war gekippt. Nach einer in fruchtlosem Streit verbrachten Nacht, unausgeschlafen und mit der Aussicht auf weitere endlose Debatten waren die wenigsten zu großzügigen Gesten aufgelegt. Und die vielen Anwärter für den Posten des Kommissionspräsidenten hatten gestern Nachmittag andere Sorgen, als letzte Hand an die Verfassung zu legen. Sie wälzten im Kopf die bange Frage: Küren sie am Ende mich oder einen anderen?