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Archiv-Artikel

Tatendrang in der Sackgasse

Bisher sei die Bewegung doch nur ein „Konventle“, sorgt sich einer, wie solle sich das ändern?

aus Stuttgart ASTRID GEISLER

Das Café im Erdgeschoss ist pleite, vergilbte Papierfahnen hängen in den Fenstern, und wäre dies kein trauriger Zufall, man müsste den Veranstaltern gratulieren: Eine wunderbare Kulisse für diesen Abend! Wer die Treppe hinaufgeht zum Vortragssaal im ersten Stock, bringt gleich die passenden Eindrücke mit – Deutschland, Pleitenland, Stillstandsland, muss nicht dringend etwas passieren? Darum geht es an diesem schwülen Feierabend im Stuttgarter Literaturhaus.

Wolfgang Dziersk, 59 Jahre, ist extra aus Waiblingen angereist und hat außer seiner Frau eine Menge Tatendrang mitgebracht. In seinem karrierten Kurzarmhemd und der Freizeithose sitzt er da zwischen Herren in Anzug und Damen in kurzem Kostüm. Der Industriemeister könnte kaum zuversichtlicher sein. „Genau das hier braucht die Republik“, sagt Dziersk. „Jetzt bekommen die Bürger die Chance, sich zu wehren.“ Er klingt absolut sicher.

Seine Hoffnung gilt einem weißhaarigen Herrn in dunkelblauem Anzug auf dem Podium. Wie er zu reden weiß! Rasantes Tempo, kurze Sätze, schneidende Stimme. Und er soll noch mehr können. Gut einhundert Bürger sitzen hier seinetwegen. Der Mann heißt Meinhard Miegel und kommt als Erlöser. Seine Verheißung: Er will Deutschland befreien aus dem „Reformstau“. Da ist er nicht der Erste. Doch viele im Saal glauben, dass Miegel der Einzige ist, der es schaffen kann – mit ihrer Hilfe, im „Bürgerkonvent“. Diesen Konvent hat Miegel vor knapp drei Monaten ins Leben gerufen und ist seither sein Wortführer. Der Professor ist ein Routinier in Talkshows, die er allerdings auch mal absagt, wenn er erfährt, dass Arbeitslose eingeladen sind, denn mit Betroffenen diskutiert er nicht so gern. Außerdem hat er vor Jahren mit Kurt Biedenkopf das private Bonner Forschungsinstitut für Wirtschaft und Gesellschaft gegründet. Nun, im Alter von 64 Jahren, hat er sich kein kleines Ziel gesetzt. Der „Bürgerkonvent“-Verein soll helfen, „Deutschland wieder aus der Sackgasse herauszuführen“. Auf einem neuen Weg.

Die meisten im Saal kennen den „Bürgerkonvent“ nur aus Fernsehspots, ganzseitigen Zeitungsanzeigen und dem Internet. „Deutschland ist besser als jetzt!“, verspricht die Werbung. Der Verein soll nicht bei Wahlen antreten wie das die Politiker machen, sondern den Bürgern die Notwendigkeit von Reformen klar machen und über sie Druck auf die Politik erzeugen.

Nun sind die Erfinder des Konvents in die schwäbische Wirklichkeit gereist. Sie suchen Mitstreiter. Stuttgart ist die fünfte Station auf ihrer Tournee durch ganz Deutschland. Wo Miegel Halt macht, soll ein Regionalbüro entstehen. Auch hier.

Der Prophet ist in Eile. Gut 90 Minuten hat er angesetzt, um sein Projekt zu erklären. Für Konkretes bleibt kaum Zeit. Keine Partei und keine Apo solle der „Bürgerkonvent“ sein, sagt Miegel. Der unabhängige, überparteiliche Verein wolle stattdessen Aufklärungsarbeit machen für notwendige, aber unbeliebte Reformprojekte. Weil sich die Politik bisher nicht traue, diese anzupacken – aus Angst, die nächste Wahl zu verlieren. „Wenn die Politik die Wahrheit sagt, muss sie wissen, die Bürger im Saal stehen auf und stehen hinter ihr.“ „Eisbrecher“ würden gebraucht, „damit das ewige Hin und Her endet und die Politik endlich Freiraum bekommt, rationalen Freiraum“. Miegel wettert auch gegen die Staatsverschuldung, ruft nach Eigenverantwortung, nach „gelebter“ Demokratie.

Damit die Botschaft wirklich ankommt, hat er Verstärkung mitgebracht: Reinhard Abels, Chef der Werbeagentur Abels Grey. Der Kommunikationsberater betreut die Werbekampagne des Konvents, geplantes Jahresbudget 6 Millionen Euro, Finanziers geheim. Er trägt eine Krawatte, so orange wie das Logo der neuen Bewegung, verlässt für seinen Vortrag das Podium und macht einen Witz: „Keine Angst, meine Damen und Herren – ich will hier nicht singen!“

Wie er so dasteht vor dem Saal, ein bulliges Energiebündel mit rundem, verschmitztem Gesicht, traute man ihm ganz anderes zu. Vielleicht würde er sich auch vom Hubschrauber auf das Dach abseilen oder im T-Shirt mit einem Aufdruck wie „Meinhard macht’s“ kommen, wenn es zum Anlass passte. Stattdessen spricht der Kommunikationsfachmann heute nur von „Claims“, „Signets“, „relevanten Teilsegmenten“, von „Kampagnenfähigkeit“. Man erfährt, dass Expertengruppen bald Konzepte in die Regionalbüros geben werden, dass die Regionalgruppen viel versprechende Vorschläge aus der Provinz an die Bonner Zentrale melden sollen, und ein Assistent am Laptop projiziert ein neues Schaubild an die Wand. Es zeigt viele Pfeile nach oben und viele nach unten.

Wem das zu vage bleibt, der findet auf seinem Stuhl eine Informationsmappe – darin steckt nicht nur die Bürgerkonventsnadel fürs Anzugkragenloch, sondern auch ein Lektüretipp für 22 Euro: „Die deformierte Gesellschaft“, der Bestseller von „Bürgerkonvent“-Initiator Miegel. Das Faltblatt verspricht: „Hier können Sie nachlesen, was Not tut in Deutschland.“ Manche Zuhörer im Saal wissen das allerdings ohnehin längst, ausgemachte Miegelianer, die den Professor schon lange bewundern, Bürger wie Claus Dieter Müller-Hengstenberg.

Müller-Hengstenberg hat den Reform-Bestseller des Wissenschaftlers durch und muss aus Sicht der Bonner Organisatoren dieses Abends auch sonst ein Bürger von ordentlichem Format sein. In seinem schieferblauen Fabrikdirektor-Sakko, mit seiner großen Brille, den grauen Haaren, dem stolzen Auftreten und seinen 63 Jahren fällt er zunächst nicht auf. Die meisten Interessenten für den neuen Bürgertrupp sehen ein bisschen aus wie die Senioren der Handelskammer. Bürger Müller-Hengstenberg aber ist nicht irgendwer: IBM-Direktor war er, Kuratoriumsmitglied in Miegels Wirtschaftsinstitut, auch mal im Bundesverband der Deutschen Industrie und anderen Branchenverbänden, Anwalt ist er noch immer, Fachbuchautor für IT-Recht zudem, hat Lehraufträge an mehreren Universitäten und einen Platz im Landesvorstand der CDU-Mittelstandsvereinigung Baden-Württemberg.

Wer über das erste Treffen der Stuttgarter Regionalgruppe berichten will, bekommt von der Bonner Vereinsspitze die Nummer des CDU-Mannes: Müller- Hengstenberg werde gern von dem Abend erzählen. Denn eigentlich darf Presse nicht in den Saal. Auch spontane Fragen an andere Bürger vor der Tür hat sich Miegels Mitarbeiterin schon Wochen vor der Sitzung verbeten. Am Ende geht beides überraschend doch.

Um die Sorgen der PR-Profis in der Bonner Zentrale zu erahnen, muss man nur lange genug bleiben. So lange, bis auch die Bürger zu Wort kommen. Da ist zum Beispiel dieser Herr in Reihe eins, der höflich dem Professor Miegel seine Hochachtung zollt und sich dann anschickt, das Fundament des Konvents anzusägen. Er äußert seine Zweifel daran, dass der Verein Erfolg haben wird, wenn er immer nur die unbequemen Wahrheiten vertritt: „Wenn wir uns einreihen in die Wahrheitsfanatiker, dann werden wir scheitern wie alle anderen, die immer die Wahrheit sagen“, ruft er. „Bei einer Pille ist auch nicht das Bittere außen und das Süße innen.“ „Wir müssen“, verlangt der grauhaarige Lockenkopf lautstark, „den Leuten den Kick geben!“

Einige Zuhörer blicken irritiert, irgendwo grummelt es im Publikum. Bisher sei die Bewegung doch nur ein winziges „Bürgerkonventle“, sorgt sich ein anderer Bürger. Wie solle dieses Häuflein je aus dem „Schattendasein“ herauskommen? Und auch Wolfgang Dziersk, der Industriemeister im karierten Hemd, fragt sich am Ende des Abends, wie es nun weiter geht mit der Stuttgarter Bürgergruppe. Niemand wurde gewählt, niemand aus der Region vorgestellt. Die Ersten sind schon gegangen, als er von den Organisatoren erfährt: Claus Dieter Müller-Hengstenberg soll in einigen Wochen zum nächsten Treffen einladen.

„Eisbrecher“ müssten her, erklärt Miegel, um endlich das Hin und Her der Politiker zu beenden

Was dann passiert? Dziersk, bisher treuer SPD-Wähler, hofft: Der Druck abertausender Bürger könnte die Regierung zu den richtigen Reformen bewegen und Deutschland könnte endlich ein gerechteres Land werden. Dann würde es endlich nicht mehr immer nur „die Kleinen treffen“.

Für diese Ziele wird er Mitbürger Müller-Hengstenberg erst noch begeistern müssen. Denn der findet nicht, dass bisher immer „die Kleinen“ rangenommen werden. Er selbst zahle doch „ganz andere Steuern an den Staat“, sagt der Jurist. Und reichere Bürger müssten sich schon heute genauso auf Einschnitte gefasst machen: „Sie müssen damit rechnen, dass sie für Immobilienanlagen keine Subventionen mehr bekommen.“

Die beiden Reformer sind aber zuversichtlich, im Konvent den richtigen Weg zu finden. Müller-Hengstenberg wünscht sich dazu einen „Meinungsbildungsprozess“. Der solle stattfinden „von unten nach oben“. Wie er genau funktionieren wird? „Das muss die Praxis zeigen.“ Mitstreiter Dziersk hat auch einen Vorschlag: „Wenn man sagt, aufgrund der Bürgermeinung kann das so nicht sein – dann ist das einfach die Wahrheit.“

Und weil er nicht mehr länger nur warten will auf diese Wahrheit, betreibt der Industriemeister inzwischen eine eigene kleine Kampagne für den Konvent, hat daheim Texte von der Internetseite ausgedruckt, in eine Mappe geheftet, die reicht er herum unter Verwandten und Freunden. Ob man jetzt nach dem langen Gespräch nicht vielleicht auch ein bisschen was spenden könnte für den „Bürgerkonvent“, fragt er die Journalistin vorsichtig.

Claus Dieter Müller-Hengstenberg bittet nicht um Geld. Am Ausgang drückt er stattdessen mit beiden Händen väterlich die Hand. Er muss sich entschuldigen, die anderen erwarten ihn schon um die Ecke im Hotel Maritim.