nebensachen aus maili suu : Im süßen Zustand des ästhetischen Nirwana
Sozialistisches Bernsteinzimmer
Es ist ja inzwischen so eine Art alljährlich wiederkehrende Dauerwerberecherche geworden: Wenn die Politiker in den Urlaub fahren, und es zu heiß ist, um Soldaten aufeinander zu hetzen, sucht irgendein großes deutsches Nachrichtenmagazin das verschollene Bernsteinzimmer. Da kann ich behilflich sein. Ich habe es gesehen, genauer: die sozialistische Variante.
Es war in Maili Suu, einem Städtchen im Süden Kirgistans. Das „Hotel Intourist“ war ein unscheinbares einstöckiges Haus, wohl so eine Art ehemalige Villa. Und das sozialistische Bernsteinzimmer war in der rechten hinteren Ecke. An ihm stimmte einfach alles. In den zentralasiatischen Exsowjetrepubliken ist der sowjetische Drang zum Pomp mit der orientalischen Liebe zum Kitsch auf das allerinnigste verschmolzen, und es ist ein eigener Stil entstanden. Ein Stil, genauer gesagt, an dem der Pomp mindestens so lächerlich gemacht erscheint wie der Kitsch in bombastische Ausmaße aufgeblasen. Aber dafür wieder kann er etwas Einzigartiges: Die Betrachter in den süßen Zustand des ästhetischen Nirwana transferieren, in dem sie einfach nicht mehr erfassen können, ob das jetzt das Scheußlichste ist, was sie bisher gesehen, oder ob das schon wieder ziemlich cool ist. Auf jeden Fall waren die Wände des Bernsteinzimmers mit geriffelten, auf geheimnisvolle Weise braun-orange schillerndenGlasbausteinen tapeziert und von anthrazitfarbenen Steinen aus demselben Material eingefasst. Die Decke war eine klassische Kassettendecke. Himmelblaue und popelbraune, mit Plastikfolie bezogenen Quadrate waren darin im Schachbrettmuster eingesetzt, und aus jedem dritten Quadrat ragte ein polierter Chromknopf. Alle Kanten des Zimmers waren mit einer in Signalorange gestrichenen Plastikleiste verkleidet, auf der wiederum eine Chromzierleiste entlang lief. Sogar der Heizkörper war hinter einer Abdeckung aus dunklem Furnierimitat verborgen und deren Lüftungsklappe mit einem Aluminiumgitter im Sputnikdesign verschlossen.
Von der Decke hingen Plastiklüster, in einer Ecke forderten in Brauntönen gestreifte Sessel den Bewohner zum Verweilen, überall auf den Tischchen standen Plastikblumen, und am Boden lag ein orientalischer Allerweltsteppich. Und die äußerste obere Ecke des Zimmers war ganz mit Spiegeln ausgekleidet. Darin hingen sieben Glaskugeln an Chromstengeln, die dafür sorgten, dass das Licht die Glasbausteine noch ein bisschen geheimnisvoller funkeln ließ.
Ich war beeindruckt. Auf dem Platz vor dem neoklassizistischen Kulturpalast in Maili Suu stand ein weihnachtsengelgoldener Lenin – wie im übrigen in vielen kirgisischen Städten. Und was sagte der Bürgermeister auf die Frage, warum: „Lenin brachte uns den Fortschritt. Deshalb lieben ihn unsere Leute. Wieso sollten wir ihn herunternehmen?“ Oh, Mann. Ich sag’s ja. Diese Kirgisen sind dermaßen zurückgelehnt. Hier möchte man fast eine Dauerwerberecherche beginnen.
PETER BÖHM