Das brutale Prinzip Blair

Der britische Premier hat seinen Ruf als ehrlicher Makler endgültig verspielt. Man traut ihm nicht mehr. Die Grundlagen seines Erfolgs sind zerstört

von DOMINIC JOHNSON

Auf dem Höhepunkt seiner Macht ist ein britischer Premierminister ein Diktator. Frei von den Beschränkungen einer schriftlich niedergelegten Verfassung und frei von den Unsicherheiten seiner ersten Jahre, kann er auf der Grundlage einer satten Parlamentsmehrheit, hoher öffentlicher Beliebtheit und überragender persönlicher Autorität tun, was er will: das Land in den Krieg führen, eine Parlamentskammer auflösen und neu zusammensetzen, neue Gremien erfinden und mit Gefolgsleuten füllen. Das ist die Zeit, in der eine Margaret Thatcher in die wöchentliche Kabinettssitzung stürmen und ihren Minister schlicht erklären konnte: „Ich habe heute überhaupt keine Zeit, außer um in die Luft zu gehen und mich durchzusetzen.“

Tony Blairs bisherige politische Karriere kann als Versuch gesehen werden, Höhenflug zum Dauerzustand zu machen. Das Projekt New Labour, das Blair bei seiner Übernahme der Parteiführung 1994 erfand und seit der Regierungsübernahme 1997 verfolgt, gründet auf dem Wunsch, unbefangen regieren zu können. Bisher hatte Labour, der politische Arm der britischen Arbeiterbewegung, sich immer im eigenen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Establishment verfangen; einem Komplex, den Exparteichef Neil Kinnock als junger Abgeordneter in den Sechzigerjahren so beschrieb: „Ich dachte, das ist doch alles Scheiße hier, und wir könnten genausogut in Disneyland sitzen. Ich muss das überwinden.“

Blair war demgegenüber das personifizierte Selbstbewusstsein. Das Establishment ist verknöchert? Wir verringern seine Macht. Die Partei blockiert Reformen? Wir regieren ohne Rücksicht auf die Partei. Die Minister sind sich nicht einig? Wir machen es trotzdem. Die Öffentlichkeit ist skeptisch? Na, dann überzeugen wir sie halt.

Grundlage dafür war Blairs guter Ruf als ehrlicher Makler, der instinktiv die Sorgen der Menschen versteht und Wert darauf legt, Versprechen zu halten. Immer wieder hat er politische Gegner und Zweifler mit dem Hinweis darauf überredet, man könne ihm vertrauen.

Jetzt glaubt die Öffentlichkeit Tony Blair nicht mehr. Am deutlichsten wird das bei der Debatte um Iraks Massenvernichtungswaffen, aber das Misstrauen trifft laut Umfragen sämtliche Erfolgsbehauptungen der Regierung. Der Premierminister setzt sich nicht mehr ohne weiteres gegen sein Kabinett durch – siehe den Erfolg von Finanzminister Gordon Brown bei der Abwehr einer Entscheidung, den Beitritt Großbritanniens zur Eurozone einzuleiten. Die Partei sitzt Blair im Nacken und hält ihn für einen Verräter an ihren Idealen – hohe Abweichlerzahlen bei Abstimmungen im Unterhaus sind an der Tagesordnung, bei Wahlkämpfen verweigert die Basis oft die Mitarbeit. Das alte Establishment mag inzwischen in Politik und Gesellschaft marginal sein, aber New Labour hat nichts Überzeugendes an seine Stelle gesetzt. Das Interesse der Menschen an Politik ist so gering wie nie zuvor, das Staatswesen gilt nach wie vor als ineffizient, während Großbritanniens soziale Probleme auch nach Jahren des Wirtschaftsaufschwungs und der Sozialreformen ungelöst bleiben.

Blairs zweite Amtszeit war nicht nur von den üblichen Debatten beherrscht – die Krise des Gesundheitswesens, die Skandale der Eisenbahn, die Zunahme illegaler Einwanderung. Hinzu kam eine Reihe rufschädigender Affären: ein handfester Parteispendenskandal; eine peinliche Bloßstellung, als seine Ehefrau der Vorteilsannahme bei persönlichen Geschäften durch Kontakte zu einem verurteilten Betrüger bezichtigt wurde; und allgemeines ungläubiges Staunen, als er in seiner jüngsten Kabinettsumbildung das Justizwesen zu reformieren versuchte und dabei kurz aus Versehen das Amt des Oberhausvorsitzenden abschaffte, was er gar nicht darf.

Die Debatte um den Irakkrieg führte beides zusammen: Differenzen über ein zentrales politisches Thema und Beschädigung Blairs als Person. Dies hat Blair nicht nur in die Krise getrieben – das wäre jedem Premierminister passiert –, sondern ihn auch in seinem eigentlichen politischen Wesen untergraben. Seine Autorität wirkt nicht mehr. Schlimmer noch: Je stärker er sich auf das verlässt, was er für seine persönliche Autorität hält, desto hohler und unglaubwürdiger erscheint er nach außen.

Im Ergebnis ist der Premier in seinem Amt geschrumpft. Als er 1997 als Strahlemann an die Macht kam, galt er als Vertreter einer kohärenten neuen Ideologie – der „dritte Weg“, eine Erneuerung der Sozialdemokratie in Zeiten der Globalisierung und ein Zukunftspfad für die Linke. Aber als er vergangenes Jahr im Parlament gefragt wurde, worin seine politischen Überzeugungen bestünden, fiel ihm einige peinliche Sekunden lang nichts ein, bevor er eine nichts sagende Antwort gab. Im Vorfeld des Irakkrieges, bei der entscheidenden Unterhausdebatte, hielt er eine der besten Reden seiner Amtszeit – über den Zusammenhang zwischen Staatszerfall, Terrorismus und globaler Unsicherheit –, aber er hat die dort enthaltenen Ideen in der neuen Debatte über die Rechtfertigung des Krieges nicht eingesetzt. Es scheint, als aktiviere er seinen einst berühmten und gefürchteten Weitblick und seinen Sinn für globale Zusammenhänge nur noch punktuell.

Blairs strategischer Grundsatz, wonach man zum Regieren nicht den bestehenden Apparat braucht, sondern seinen Ideen einfach durch Überzeugungskraft den Weg bahnen kann, ist jetzt auch für die Öffentlichkeit als das enthüllt worden, was er nach innen längst war: Brutalität im Umgang mit den eigenen Leuten. Längst haben die wiederholt ausgerufenen Revolutionen im britischen öffentlichen Dienst, gekoppelt an die Verpflichtung zu ständigen Evaluierungen im Rahmen sowjetisch anmutender Plan- und Qualitätsvorgaben, die Arbeitsmoral schwinden lassen und hohe Ausgaben in absurde bürokratische Projekte gelenkt. Und die Unbekümmertheit, mit der die Regierung Blair bei jedem Problem hohe Beamte der Verfehlung bezichtigt, hat Unmut ausgelöst. Als die ersten Zweifel an den Irakdossiers der Regierung auftauchten, bestand der Reflex von Blair-Loyalisten darin, die Geheimdienste der Destabilisierung zu bezichtigen. Später, als ein Unterhausausschuss die Regierung vom Vorwurf der bewussten Manipulation freisprach, aber den schlampigen Umgang mit Geheimdienstinformationen rügte, warf die Regierung ohne Not den Namen des allgemein als penibel und integer geltenden Waffenexperten David Kelly in den Ring, um von eigenen Verfehlungen abzulenken. Nun hat Kelly mit seinem Selbstmord das Prinzip Blair in seiner ganzen Unerbittlichkeit vorgeführt.