: Doch irgendwie gläubig
Religionswissenschaftler der Freien Universität haben ein 650 Seiten starkes Nachschlagewerk zum religiösen Leben an der Spree verfasst – eine Fleißarbeit zum Glaubensteppich im „gottlosen Berlin“
von PHILIPP GESSLER
Der Religionswissenschaftler Stefan Rademacher würde auch einen guten Detektiv abgeben. Monatelang recherchierte er nach einer winzigen Berliner Religionsgemeinschaft der Krishna-Frömmigkeit. Er kannte den Namen der Gruppe. Doch die Recherche im Internet, bei anderen Experten und bei verwandten Gruppen des Bhakti-Yoga ergab nichts – nur den Hinweis einer anderen Gemeinschaft, diese winzige Vereinigung sei mittlerweile in sie integriert worden.
Da plötzlich, an einer Laterne mitten in Berlin, fiel dem blonden Wissenschaftler ein Zettel der gesuchten Gemeinschaft auf, mit einem Meditationsangebot. Der Forscher rief bei der angegebenen Nummer an und hatte endlich, kurz vor Redaktionsschluss vor wenigen Wochen, die letzte Religionsgemeinschaft, die in sein und Nils Grübels Opus magnum passte: ins Handbuch „Religion in Berlin“.
Das 650 Seiten starke Nachschlagewerk, das gestern im Dahlemer Institut für Religionswissenschaften der Freien Universität vorgestellt wurde, schließt eine Lücke: Es herrsche „ein Mangel an einer Gesamtübersicht“ der Glaubenslandschaft in Berlin, sagte Rademacher, ein Mangel, den er, sein Kollege Grübel und 30 bis 40 Studenten des Instituts in zweijähriger Arbeit zu beheben versuchten. Eine Sisyphusarbeit, denn Berlin mag in den Augen konservativer katholischer Würdenträger zwar immer noch eine „gottlose Stadt“ sein. Das aber kann nur sagen, wer bloß aufs Christentum schaut.
De facto ist Berlin die deutsche Großstadt „mit den meisten Religionsgemeinschaften“, wie Institutschef Hartmut Zinser erklärte. Zwar seien nur etwa 40 Prozent der Berliner Mitglieder der großen christlichen Kirchen – „schlichtweg Unsinn“ aber sei es, den Rest einfach atheistisch zu nennen. Zu diesen 40 Prozent kämen nämlich weitere 40 Prozent hinzu, die lediglich „religiös unorganisiert“, jedoch durchaus irgendwie gläubig seien.
Der Himmel ist also auch über Berlin, das Metaphysische schwebt bunt in den Köpfen der Menschen: Rund 400 Gruppen gibt es, vom Erzbistum Berlin bis zu den Solid Rock Foundation Ministries (SRFM), von der Türkischen Föderation bis zum Lotus-Sangha of World Social Buddhism. Von der Hexenschule in Neukölln bis zur World Peace Prayer Society reicht das bunte religiöse Leben der Hauptstädter – und über 360 Gruppen liefert das Werk eine kurze, nüchterne Übersicht zu Herkunft, Entwicklung und Kultformen. Eine Fleißarbeit.
Auffällig dabei ist das Bemühen, die religiösen Gruppen möglichst nüchtern und objektiv, jedoch auch „wohlwollend“ zu beschreiben, wie Grübel es formulierte: Streng (religions-) wissenschaftlich, nicht theologisch gingen die Forscher dabei vor. So ist ihre Darstellung über eine schwer verständliche indische Minigruppe so distanziert und kühl wie über die großen Kirchen und ihre Lehrgebäude.
Ein Beispiel sind die ersten erläuternden Sätze des Buches zu „Jesus Christus“: „Das Christentum ist nach der Person Jesus von Nazareth benannt, der Christus (christos = der Gesalbte) genannt wurde. Die historische Realität dieser Person ist nicht unumstritten.“ Über eine andere Gruppe referieren die Wissenschaftler trocken, dass sie nach dem Glauben ihrer Mitglieder von Paulus im Heiligen Land gegründet worden sei – während in Wirklichkeit ihr Verein vielmehr 1922 in Charlottenburg aus der Taufe gehoben wurde.
Diese wissenschaftliche Neutralität geht so weit, dass auch umstrittene Vereinigungen wie neuheidnische Gruppen, die Hamas oder die Scientology Organisation (SO) erfasst werden – wenn auch, bewusst und überdeutlich, etwa die SO nur in einem Sonderkapitel ganz am Ende des Buches unter „Hintergründe und Berichte“ auftaucht. Das entscheidende Kriterium für die Aufnahme solcher Gruppen war, ob sie sich selbst als Religionsgemeinschaft definieren.
Ein Eins-a-Beerdigung also für das Schlagwort von der „gottlosen Stadt“? Nein, denn zumindest der Osten der Stadt, so Grübel, sei immer noch, religiös gesehen, „das größte Brachland“. Allerdings eines, das für missionarische Gruppen derzeit zugleich am attraktivsten sei: „Da passiert am meisten.“