Trauma einer Generation

Wenn die Welt ihre Farben verliert: Eine Ausstellung im Kunsthaus Dresden zeigt Arbeiten zum „Atomkrieg“ – und macht sich Gedanken über die Folgen der Atomangst in den Achtzigerjahren

VON HENNING KOBER

Es geht um Leben und Tod. Um Kinderängste. Krallt sich böse der alte Affe Angst an noch junge, reine, feine, kluge Köpfe. Da sortiert Ulrike jeden Abend im Bett ihre Gliedmaßen, sorgfältig, dass Arme und Beine nicht den Körper berühren. Ort und Zeit: Anfang der Achtzigerjahre in Ostberlin, Lichtenberg.

Zuvor wurde in der Schule über die Folgen eines Atombombenabwurfs auf Deutschland referiert. Genau wurde die Verschmelzung von Armen und Beinen mit dem Rumpf zu einem bewegungsunfähigen Klumpen beschrieben. Durchs Fenster sucht André den Himmel Richtung Westberlin ab, nach heranfliegenden Atomraketen.

Für den Fall der Nachricht, dass die USA ihren roten Knopf gedrückt haben und der Tod programmiert mit den Koordinaten der DDR losgeflogen ist, hat Antje einen Plan entworfen: mit der Freundin auf das Hochhaus, schnell, dann wegspringen vor dem Strahlentod. „Ich habe mir das so oft vorgestellt, dass ich glaubte, ich könnte es wirklich. Für mich ist Selbstmord bis heute nichts Schlimmes“, schreibt die jetzt 35-Jährige. Es ist der Querschnitt durch die Erinnerung einer Schulklasse, auf große Plakate gedruckt in einem Raum des Kunsthauses Dresden. Ulrike Kuschel, die als Kind jahrelang unter Schlafstörungen litt, ist inzwischen Künstlerin. Sie dokumentiert das erste kollektive Trauma ihrer Generation.

Im Westen war das wenig anders. Was dem Osten der Staatsbürgerkundelehrer, waren in der Bundesrepublik Atomangstfilme wie „The Day After“ und „Die letzten Kinder von Schewenborn“. Entstanden sind sie im guten Willen, der wahnsinnigen Normalität, mit der das atomare Wettrüsten von den Regierungen betrieben wurde, etwas entgegenzustellen. Herausgekommen sind Szenarien des Menschenuntergangs, schrecklich detailliert. Den Zweck der Angsterzeugung – Abschreckung und Einsicht bei den Erwachsenen – erfüllten sie eher mäßig. Die Furcht bei den Jungen wurde dafür umso heftiger und prägender ausgelöst.

Sich mit diesen Ängsten auseinander zu setzen ist Idee und Motivation von Antje Majewski, bildende Künstlerin aus Berlin, und ihrem Mann, dem Schriftsteller Ingo Niermann. Die beiden haben die Ausstellung „Atomkrieg“ kuratiert und dazu 20 Künstler aus Europa und den USA eingeladen, darunter Isa Genzken oder die „Church of Euthanasia“ mit ihrem „Reverend“ Chris Korda. Durchweg neue Werke sind entstanden. Denn aus der Zeit der akuten Bedrohung selbst gibt es wenig distanziertes Schaffen.

Der Weg durch die Schau im Kunsthaus Dresden führt hinter einen Vorhang. Vom Beamer an die Wand geworfen flimmern Gelb, Rot, Blau, Grün, formieren sich in Kästchen, tanzen weiter. In der Momentaufnahme ein Bild des Rauschens. In der Dauer – zehn Minuten Video-Loop von Markus Dinig, „Untitled“ – ein Rauschbild, ein sich stetig veränderndes Kaleidoskop. Mikroskopisch entschwinden die Farbpixel. Die Welt verliert ihre Farben. Metaphorisch zur Power der Bombe, so sieht das aus.

Nebenan ein anderer Film: Eine junge Frau in weißem Schutzanzug taucht ihre Hände in schwarze Erde. Die Beine rennen in den Wald, ein Knall, sie wirft sich hin. Strandet in einer Höhle, staunt verwirrt wie E. T. über Männer, die Bohrstangen ins Salz treiben. Eingefangen hat die Bilder die Künstlerin Salla Tykkä aus Helsinki.

Die Ausstellung ist ein Konzert von Werken aus den unterschiedlichsten Disziplinen, eine Mischung aus Gemälden, Installationen, Videos und Fotoarbeiten, die den persönlichen Zugang suchen. Denn es geht ums Fühlen. Um Bilder und Ideen aus deinem, meinem Kopf, die hier ausgelöst, aktiviert werden.

Ergänzend dazu bildet der Katalog fast eine zweite Ausstellung: Zeitgenössische Autoren, geeint im Generationspool, versuchen der subjektiven Angst die eigene Analyse entgegenzusetzen. Als „extremen Klassiker“ deutet Joachim Bessing die Atombombe. „Es scheint, als altere sie nicht. Egal welcher Stand der Zivilisation erreicht wird, nach einem Atomkrieg ist der Stand der Zerstörung immer der gleiche: nämlich totale Verwüstung.“ Warum dies nicht tatsächlich längst passiert ist, macht Bessing im geglückten Raumflug aus, der dem Menschen die Sicht von außen auf den blauen Planeten ermöglichte und ihm die Einzigartigkeit der Welt ins Bewusstsein schleuderte. An ihrer gewaltigen Macht hat die Bombe auch ohne Zündung wenig eingebüßt, konstatiert der Autor Ingo Niermann. Der UN-Sicherheitsrat entspricht dem offiziellen Club Atom. Die Demokratisierung der Welt scheitert noch immer an der A-Bombe, spielt er den Gedanken weiter.

Auch mit der fieberhaften Entwicklung der Atombombe und den daran beteiligten Personen beschäftigt sich das Katalogwerk ausführlich. So verweist Antje Majewski die These, deutsche Wissenschaftler hätten unter Hitler den Bau der Atombombe sabotiert, ins Reich der späteren Schutzlegenden. Und Christian Kracht karikiert den Geist dieser Wissenschaftler in einem grandios kolportierten Dialog. Es unterhalten sich Albert Einstein und der Ungar Leo Szilard. Letzterer berichtet seinem Freund von der entscheidenden Entdeckung auf dem Weg zur Absorptionskältemaschine. Die Theorie zur Maschine funktioniert analog zu aufsteigende Blasen in der Badewanne. Szilard erkennt dies, im Sitz blähend in der Wanne. In Nürnberg ist das, wo Würstel und Kraut schmecken. Gedacht wird in der Logik des Systems.

Die Ausstellung findet nicht ohne Grund in Dresden statt. Im Sommer 1944 soll der Oberbürgermeister der Stadt von einem Adjutanten Görings aufgesucht worden sein. Über die deutsche Botschaft in Lissabon hätten die Amerikaner gedroht, Dresden per Atombombe auszuradieren, böten die Deutschen nicht innerhalb der nächsten sechs Wochen Frieden an. Es sollte später auf andere Weise geschehen.

Im Januar dieses Jahres gibt der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde Mohammed al-Baradei dem Spiegel ein Interview. Darin warnt er, die Gefahr eines Atomkrieges auf der Welt sei nie so groß gewesen wie heute. Jetzt, in diesem Moment. Es gehe um Leben und Tod.

So geht das schon seit 60 Jahren, seit der Erfindung der Atombombe.

Ausstellung „Atomkrieg“ im Kunsthaus Dresden, verlängert bis zum 15. August. Der Katalog erscheint im Verlag Lukas & Sternberg