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Archiv-Artikel

Literatur mit krummen Gurken im Glas

Auf Einladung des Goethe-Instituts besuchten 14 internationale Kulturmittler Berlin und machten sich auf die Suche nach der Literatur. Die Pariser Literaturagentin Christine Scholz ließ sich verblüffen von den Alltagsgeschichten der Lesebühnen

VON CHRISTINE SCHOLZ

Was versteht man unter „Literaturstadt Berlin“? Gibt es eine „Berliner Literatur“, und wenn dem so sein sollte, was genau heißt das überhaupt, „Berliner Literatur“? Handelt es sich dabei um Werke, die in der Hauptstadt geschrieben werden, sollen sie sich mit der Stadt als solcher befassen, oder geht es darum, einen Stil, eine Atmosphäre zu definieren, die man vielleicht nur in Berlin wahrnehmen kann?

Da diese Fragen seit Jahren diskutiert werden und dabei so vielschichtige Antworten hervorgebracht haben, wie sie de facto bereits in der Fragestellung ankündigt sind, soll dies hier nicht ein weiterer Versuch werden, noch eine andere, eine neue Antwort zu entwickeln.

Es ist jedoch so, dass der Besucher aus der Fremde eine gewisse Neugierde entwickelt, zu erfahren, was es denn nun mit dieser „Berliner Literatur“ oder auch mit der „Literaturstadt Berlin“ auf sich haben soll. Er macht sich also auf die Suche, und das, was er dann so hört und sieht, ist durchaus erstaunlich, nicht immer überzeugend, aber oft überraschend. So viel vorab.

Auffällig ist für den Außenstehenden vor allem eins: der Gegensatz zwischen einer Stadt, die einen Platz in der internationalen Öffentlichkeit anstrebt, und Literaten, die in kleinen, meist unscheinbaren Cafés mit ihren Texten den Rückzug ins eigene Leben praktizieren.

Berlin scheint noch immer auf der Suche zu sein: nach einem eigenen Image, einer Stabilität, einem Stadtbild, einem Gesicht, über welches es sich definieren und nicht zuletzt auch (re)präsentieren möchte.

Berlin als Hauptstadt, Berlin als Metropole, Berlin als Mittelpunkt zwischen Ost und West. Das Streben der Stadt nach einem eigenen Gesicht wirkt aus der Nähe oft verzweifelt und mühsam, um nicht zu sagen schwerfällig, und wird doch im Ausland so ganz anders rezipiert.

Für den Fremden erscheint Berlin als eine Art „Mekka der unbegrenzten Möglichkeiten“: noch immer im Umbruch, noch hat nichts wirklich Bestand und der Innovation sind keine Grenzen gesetzt. Oft sieht man in den Gesichtern derjenigen, die bereits ein eigenes, ihnen durchaus genehmes Leben führen, ein abenteuerliches Flackern in den Augen auftauchen, wenn der Name Berlin fällt. Die Menschen geraten ins Schwärmen und man hört dann so eigentlich aussagelose Bemerkungen wie: „Ja, das ist eine interessante Stadt, so dynamisch, so unkonventionell, so anders, was man da nicht alles erleben kann.“ Dass Berlin vor allem versucht, 40 Jahre Vergangenheit abzuschütteln, und dies nicht zuletzt vielleicht auch ein Grund ist, warum diese Stadt sich noch immer nicht gefunden hat, nimmt der schwärmende Betrachter aus der Ferne erst einmal nicht wahr.

Eine Ahnung von der Diskrepanz zwischen Fiktion und Wirklichkeit der Stadt tut sich allerdings auf, wenn der Betrachter aus der Ferne einmal den Fuß auf Berliner Boden und insbesondere in die Nähe einer der zahlreichen Lesebühnen setzt! (Lesebühnen – auch so ein Phänomen, das im Ausland erst einmal durch seine Exotik besticht.) Da installiert man sich nun wie der „gemeine Berliner“ mit einem Bier auf einer der – auf Dauer – unbequemen Holzbänke und harrt erwartungsvoll der Texte, die da zu hören sind.

Die Tatsache, dass sämtliche der anwesenden Autoren erst einmal Gemeinfloskeln unter sich austauschen und damit dem Publikum gewollt oder ungewollt suggerieren, dass es sich hier um eine eigene Spezies, nämlich die der „Berliner Autoren“, handelt, nimmt der Neuankömmling erst einmal gelassen hin. Ist ja klar, Autoren sind andere Menschen, eine Gattung für sich, mit der der einfache Zuhörer nichts gemein hat. Wenn dann nach vielem Hin und Her die Lesung beginnt und die gespannte Erwartung der Realität des eben Gehörten weicht, ist der Zuhörer zuerst einmal verblüfft.

Verblüfft deshalb, weil sich diese Texte, von denen er Außergewöhnliches oder zumindest doch originelle Unterhaltung erwartete, auf einmal mit „krummen Gurken“ und der Beschriftung des dazugehörigen Glases befassen oder das freudlose Ende einer Studienfreundschaft aufgrund der Heirat des alten Kumpels in einem viertelstündigen Vortrag zum Ausdruck bringen. Nicht zu vergessen die immer wieder gern in Szene gesetzte Rückkehr in die Kindheit, in welcher dann auch „Kermit der Frosch“ oder „die Schweine im Weltall“ ihren Auftritt haben.

Im Anschluss an diese erste Verblüffung setzen die Fragen ein: Sind das nun die Texte, die man auf den Lesebühnen der „Literaturstadt Berlin“ hört? Sind das die Autoren, die in meist langwierigen, selten komischen Werken ihr Alltagsleben, ihre Erinnerungen, Stimmungen, Lebensansichten in Szene setzen?

Der Zuhörer findet sich darin wieder, zweifellos, er kann auch darüber lachen, von Zeit zu Zeit, stellt sich aber vor allem die Frage: „Kann ich nicht solche Geschichten auch erzählen?“ Haben wir nicht alle anekdotische Erlebnisse, Erinnerungen an Freunde, die keine mehr sind? Und ist das wirklich Literatur? Was ist denn nun Literatur? Kann jeder Literatur machen, der die Begebenheiten seines Lebens einigermaßen komisch beschreiben und schwungvoll vortragen kann? Mit diesen Überlegungen bleibt der – aus fernen Ländern angereiste – Zuschauer einigermaßen verdattert auf seiner Holzbank sitzen und muss nun von seiner „Fiktion Berlin als der Stadt, in der alles spannend ist“, und den Autoren, von denen man sich anderes als Geschichten aus dem eigenen Leben erwartete, erst einmal Abschied nehmen.

Setzt man allerdings das auf der Bühne Gehörte in Beziehung zur Stadt Berlin, so entsteht eine leise Ahnung, warum die andauernde Suche der Stadt nach einer eigenen Identität noch immer kein Ende gefunden hat. Man kommt nicht umhin, eine Diskrepanz zwischen dem Anliegen der Stadt und der Literatur ihrer Autoren feststellen zu müssen.

Dies ist umso bemerkenswerter, als gerade diese Generation junger Autoren, die der Stadt zu einem adäquaten Erscheinungsbild verhelfen könnte, eine Richtung einschlägt, die zum Anliegen der Stadt konträr läuft. Der Wunsch nach dem „Äußeren“ steht hier dem Rückzug in das „Innere“ gegenüber. Während Berlin nach draußen, weit über seine Grenzen hinaus strebt, bezieht sich ein Großteil seiner Autoren auf das eigene, alltägliche Leben und die Erlebnisse, Wahrnehmungen, die damit verbunden sind.

Ganz so, als ob da kein Raum, kein Wunsch wäre nach einer äußeren Darstellung und das Geschehen „da draußen“ nicht allzu viel mit dem eigenen Dasein, dem persönlichen Leben in gerade dieser Stadt zu tun hat.

Und auch wenn dies erst einmal befremdlich wirkt, ist es genau das Moment, in welchem der fremde Zuhörer nach seiner ersten Verblüffung wieder eine Einheit zwischen seinen Erwartungen ganz generell an Literatur und dem soeben Gehörten erreichen kann. Denn was wäre Literatur, wenn sie sich allein über eine Stadt oder über das Streben gerade dieser definieren ließe? Was wäre Literatur, wenn sie nicht mehr überraschen, ja sich so einfach den Erwartungen und Vorstellungen Außenstehender unterwerfen würde?