strafplanet erde: hirn für minuten von DIETRICH ZUR NEDDEN
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Der erste Aufzug spielt während einer Fußballer-Versteigerung. Auktionator und Spieleragent Schimsa behauptet von sich, den „schlechten Gummi der Fußballseelen auf hundertmal Elferentfernung“ zu riechen. Auch wenn einer Lackschuhe an habe, protzt er, merke er seine Volleybegabung. Dann steigt Schimsa, „Personifikation der lauten Halbbildung und Skrupellosigkeit“, auf das Podium: „Ich bin heute in der Lage, Ihnen das beste Material anzubieten.“ Schimsa scheint nicht zu übertreiben. Tummy zum Beispiel, linker Verteidiger, bringt 82 Pfund. Palt, der Torhüter, der schon sechshundertfünfundzwanzig sichere Goals verhindert hat, geht für 104 Pfund an die Kalifornians. Als Nächstes hat Schimsa eine fünfköpfige Sturmreihe im Stück anzubieten. Yes, Flatter, John, Puck und Leß. Angesichts ihrer gewaltigen Schusstechnik ächzen die Goalmänner „schnell noch ein Fußballstoßgebet und holen betrübt den Ball aus dem Netz“. Die Angriffseinheit geht für fünfhundertzehn an die Kickers.

Als Melchior Vischer 1924 sein Stück „Fußballspieler und Indianer“ schrieb, wusste er vermutlich, was er tat, aber er wird kaum gewusst haben, was aus dem Geschäftszweig Fußball achtzig Jahre später geworden sein würde. Dass es immer noch Beobachter gibt, die anklagend-moralisierend oder abfällig Profi-Mannschaften zu „Söldnertruppen“ erklären. Dass so gut wie jeder Verein Scouts um den Erdball fliegen lässt, um in Billiglohnländern die größten Talente zu ergattern. Ebenso wenig konnte Vischer damit rechnen, dass in ihrer Selbstgefälligkeit unerträgliche Berichterstatter wie John Boy Kerner Prominenten-Status erlangen würden, dass das Fernsehen den Fußball zu einem wesentlichen Element der Unterhaltungsindustrie für die ganze Familie perfektionieren würde.

Vier Jahre vor seinem Theaterstück antizipierte Vischer allerdings indirekt ein charakteristisches Merkmal der Zukunft, als er einen „unheimlich schnell rotierenden Roman“ über den Stukkatör Jörg Schuh veröffentlichte, der ausgerechnet „auf einer Barke im Hafen Lissabons“ geboren wird, eines von abertausenden blitzartigen Bildern seines Lebens, die Schuh, von einem Baugerüst fallend, auf dem Weg nach unten imaginiert. „Sekunde durch Hirn“ heißt die Broschüre, was sich über die Variante „Hirn für Minuten“ in die aktuell gern zitierte „Spielintelligenz“ verwandeln lässt, zumal Schuh auf den absurd-grotesken biografischen Stationen selbstverständlich u. a. „Matador der Sportplätze“ wird und „wahre Parafrasen im Fußball“ schießt.

„Fußballspieler sind begehrter als Industrieaktien!“, meint einer in Vischers Theaterstück, und Schimsa ergänzt: „Alles, was auf Muskelbasis ruht“, habe Zukunft und sei etwas „Erfrischendes! Ein wenig Natur in den asfaltierten Kasernenstädten und den Benzinbehältern unseres Lebens.“ Er empfiehlt einen Mittelstürmer, der billig ist, weil er noch nicht wisse, dass seine Qualität für andere eine Ware bedeute. Bill Week heißt der Mann, den es „vor Freude fett“ macht, wenn er das „Gebrüll aus tausend Gurgeln hört: Goal!!!“. Vielleicht erleben wir ihn ja noch bei der EM. Vischer wiederum starb vergessen und verarmt in Berlin in dem Jahr, als Gladbach zum dritten Mal deutscher Meister wurde.