Sturm im Zahnputzbecher

Auch wenn in der rot-grünen Koalition über den Gesundheitskompromiss gemurrt wird: Kanzlermehrheit scheint sicher

aus Berlin JENS KÖNIG
und LUKAS WALLRAFF

So hat es Gerhard Schröder am liebsten: Bei der Bewertung seiner Politik soll das Große und Ganze im Mittelpunkt stehen, das Heroische, das Historische. Und vor allem er selbst. Er wird sich sehr darüber gefreut haben, dass die angesehenste Wirtschaftszeitung seine Weltsicht teilt. Gestern veröffentlichte die Financial Times auf Seite 1 eine Schlagzeile ganz nach des Kanzlers Geschmack. „Schröder victory on healthcare reforms“, heißt es im Titel, Unterzeile: „Auftrieb für den Kanzler – Opposition unterstützt größte soziale Reform seit der deutschen Wiedervereinigung“.

Aber was passiert in der Reformstau-Republik Deutschland bereits fünf Minuten nach der Verkündung der Revolution im Gesundheitswesen? Kritik, Nörgelei, Klein-Klein-Debatten. Gewerkschafter, Ärzte, Apotheker, Wirtschaftsverbände, Handelskammern, Verbraucherschützer, Versicherte, Patienten, Sozialdemokraten, Grüne, selbst Minister der eigenen Regierung – alle nölen sie an Schröders schöner Reform herum. Der Kanzler wird das registrieren, weil er es genauso erwartet hat. Und er wird sich davon nicht sehr beeindruckt zeigen, weil er mit der Union die große Oppositionspartei mit im Boot hat. Trotzdem will Schröder im Herbst bei der Abstimmung über die Gesundheitsreform eine eigene rot-grüne Mehrheit. Das könnte ihm gelingen. Der momentane „Widerstand“ in den Regierungsfraktionen lässt sich doch eher als Bauchschmerz interpretieren.

Bei der SPD ist die Lage relativ übersichtlich. Öffentlicher Protest gegen die Gesundheitsreform wird bislang von notorischen Schröder-Kritikern der SPD-Linken geäußert. Die beiden Vorstandsmitglieder Andrea Nahles und Niels Annen fordern Korrekturen der geplanten Maßnahmen, weil diese einseitig die Versicherten belasten würden. „Das ist keine sozialdemokratische Reform“, sagt Andrea Nahles, die Sprecherin der SPD-Linken. Annen und Nahles sitzen aber weder im Bundestag, noch haben sie in der Partei wirklich Einfluss. In der Bundestagsfraktion hat bislang nur der aufrechte Ottmar Schreiner Widerstand bis zum bitteren Ende angekündigt: Er will mit Nein abstimmen. „Die Pläne sind nicht akzeptabel“, sagt Schreiner. Seiner Meinung nach sei allein schon die Privatisierung des Krankengeldes ökonomisch ein Fehler, weil dadurch der Wirtschaft Kaufkraft entzogen werde. Im Schatten von Schreiner stehen in der Fraktion noch fünf, sechs Kritiker der Agenda 2010, die ihr Abstimmungsverhalten auch bei der Gesundheitsreform vom konkreten Gesetzestext abhängig machen wollen.

Schließlich hat sich mit Hans Eichel etwas überraschend ein Minister aus Schröders Kabinett als sozialdemokratischer Nörgler an der Gesundheitsreform hervorgetan. Er bezweifle, ob sich mit den geplanten Maßnahmen die erhofften Einsparungen erzielen lassen, soll der Finanzminister in der Präsidiumssitzung am Montag gesagt haben. Das kann man getrost als Fortsetzung eines Streites sehen, den der geschwächte Finanzminister mit der gestärkten Sozialministerin Ulla Schmidt bereits seit einigen Wochen führt. Als Schmidt Anfang Juni sich gegen Eichel mit ihrer Absicht durchsetzte, versicherungsfremde Leistungen der Krankenkassen mit Hilfe einer Tabaksteuererhöhung aus dem Haushalt zu finanzieren, schoss der gefrustete Eichel öffentlich zurück: „Die Probleme in einer Sozialversicherung lassen sich nicht dadurch lösen, dass man frisches Geld aus dem Haushalt nachschießt.“ Ihren Streit versuchten Eichel und Schmidt gestern zu entschärfen. Eichel behauptete einfach, er habe die Kritik nicht geäußert, und Schmidt sagte, sie habe eine solche Kritik nicht gehört.

Bei den Grünen ist die Lage noch übersichtlicher. Enttäuscht, verschnupft, verärgert – so reagieren die meisten von ihnen auf den Kompromiss der großen Parteien. Ein Aufstand gegen Schröder ist aber kaum zu erwarten.

Parteichef Reinhard Bütikofer hat offenbar aus den Fehlern bei der Vermittlung der Agenda 2010 gelernt. Damals hatte er wenig Gespür für die Gefühle der Basis bewiesen und schlechte Botschaften als Erfolge verkauft. Diesmal gab Bütikofer sofort zu: „Wir haben bei weitem nicht erreicht, was wir uns zum Ziel gesetzt haben.“ Diese nüchterne Bilanz kam an. „Das Schönreden sollten wir tunlichst der SPD überlassen“, meint NRW-Landeschef Frithjof Schmidt. Dennoch sieht er keine Alternative: „Diese Reform muss man jetzt wohl machen.“

Auch die Kritiker in der Bundestagsfraktion halten sich mit Drohungen zurück. Wie man sich bei den Abstimmungen im Parlament verhalten werde, so die allgemeine Sprachregelung, wolle man „erst entscheiden, wenn die Gesetzestexte da sind“. Wie diese Entscheidung ausfallen wird? „Mal sehen“, sagt der Abgeordnete Markus Kurth. Eine „Einzelaktion“ gegen die Reformpläne wolle er jedenfalls nicht starten, obwohl er mit dem Ergebnis „höchst unzufrieden“ sei. Noch auf dem Parteitag im Juni habe er sich für die Gesundheitsreform stark gemacht, so Kurth, „weil ich dachte, dass alle Seiten gleichermaßen belastet werden“. Nun sei genau das Gegenteil passiert. Wie man damit umgehen soll, ist ihm noch nicht klar.

Fraktionsvize Christian Ströbele tut wie immer wichtig und geheimnisvoll. „Wie ich mich bei der Abstimmung verhalte, wird auch von anderen Dingen abhängen“, sagt er zur taz. Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer, warnt mögliche Wackelkandidaten schon mal. Bei der Gesundheitsreform handele es sich um einen politischen Kompromiss. „Das ist keine Gewissensfrage“, sagte Beck der taz. Deshalb werde man die Abstimmung auch „nicht freigeben“.

Die Unzufriedenen tröstet er mit der Aussicht auf bessere Zeiten. „Wir werden im Herbst eine Offensive starten“, kündigt Beck an. Er meint damit die Bürgerversicherung. Sie durchzusetzen, das ist das neue grüne Ziel. Damit ließe sich auch die Niederlage bei der Gesundheitsreform ganz gut verschmerzen.