: Der Luxus der Leere
Forst in der Lausitz ist nicht nur eine schrumpfende, sondern auch eine aussterbende Stadt. Doch was heißt das für die Zukunft? Die Stadt stilllegen? Auf „Raumpioniere“ warten? Nein, sagen die Forster und erobern sich ihren Marktplatz selbst
VON UWE RADA
Einen solchen Marktplatz hat keine andere Stadt. In der Mitte die Kirche, auf drei Seiten Plattenbauten, nach Süden hin eine Lücke. Vor einem Jahr wurde dort ein Wohnriegel abgerissen, seitdem ist der Forster Marktplatz offen. Kein privater Bauherr wollte sein Geld in Forst lassen, und die Wohnungsbaugesellschaft, der das Grundstück gehört, hat mit anderen Leerständen zu kämpfen. Der Architekt Siegfried Reibetanz sagt es so: „Es ist etwas Besonderes, wenn sich am Marktplatz einer Stadt mit mehr als 20.000 Einwohnern kein Investor mehr findet.“
Es klingt, als hätte man Forst aufgegeben, jene Stadt, von der ein zeitgenössischer Beobachter 1927 geschrieben hatte: „Ein Wald von Schornsteinen mit langen Rauchfahnen bildet die charakteristische Silhouette dieser Stadt. Fabrik reiht sich an Fabrik, ganze Viertel bedeckend in allen Stadtteilen. Lokomotiven durchfahren die Straßen und schleppen Waggon um Waggon, auf Rollböcke gesetzt, in die zahllosen Fabrikhöfe.“
„Deutsches Manchester“ hatte man die Stadt damals genannt. Und die fast 40.000 Forster waren stolz auf ihr „Manchester“, auf die „Schwarze Jule“, wie die Fabrikbahn genannt wurde, auf den Rosengarten, der 1913 gegründet wurde, auf die Tatsache, dass jeder fünfte Anzug in Deutschland aus der Textilstadt in der Lausitz kam. Nicht nur nach Fabrik roch es damals in Forst, sondern auch nach Zukunft. Die war auch das Werk von Rudolf Kühn. Ganz im Stil der neuen Sachlichkeit ließ der Stadtbaurat in den Zwanzigerjahren die Siedlung „Jerusalem“ bauen, das expressionistisch anmutende Realgymnasium, das Gebäude der Ortskrankenkasse, und, warum auch nicht, ein Krematorium. Wichtig war nur, dass mehr Kinder geboren wurden, als ältere Forster starben.
Heute hat sich auch das umgekehrt, sagt Markus Goldschmidt, der seit 1990 als Baudezernent den Stadtumbau in Forst begleitet. „Wir haben einen Sterbeüberschuss und wir haben Abwanderung.“ Forst, das anders als die anderen Industriestädte an der Grenze zu Polen wie Schwedt, Eisenhüttenstadt oder Guben schon zu DDR-Zeiten eine schrumpfende Stadt war, hat seit der Wende noch einmal ein Fünftel seiner Einwohner verloren. „Jetzt leben 23.000 Forster in der Stadt“, sagt Goldschmidt und wird nachdenklich. „Mittlerweile gehen sogar die Alten weg, sie ziehen ihren Kindern hinterher, in den Westen.“
Forst ist demnach nicht nur eine schrumpfende, Forst ist auch eine aussterbende Stadt. Goldschmidt weiß es. Er ist Beamter und kein Politiker, deshalb hat er keinen Grund, etwas zu beschönigen. „Wenn das so weitergeht, kann man Forst irgendwann dichtmachen.“
Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Stadt, dass man über eine Stilllegung nachdächte. 1945 lag Forst, das deutsche Manchester, aus dem auch jede fünfte Uniform gekommen war, in Trümmern. 88 Prozent der Gebäude waren zerstört. Der sowjetische Stadtkommandant wollte Forst deshalb aufgeben und zur „toten Stadt“ erklären. Doch dann kamen die Flüchtlinge aus dem Osten und fanden in den verbliebenen Häusern Unterschlupf. Forst wurde wiederbelebt, zur „toten Stadt“ wurde damals nur Forst-Berge, der Stadtteil aus den 20er-Jahren am andern Neißeufer, der heute Zasieki heißt.
Am Forster Marktplatz weiß man um diese Geschichten, sie sind nicht zu übersehen. Zwischen Markt und Neißeufer, wo einst das Zentrum lag, haben Bäume, Brachen und Grünflächen den Stadtraum erobert, nur hin und wieder unterbrochen von einer Häuserzeile. Wären da nicht die Gleise der „Schwarzen Jule“, die in schwungvollem Bogen ins Nichts führen, wüsste man nicht, wo die Stadt endet und die Landschaft beginnt. „Forst“, sagt Siegfried Reibetanz, der im Auftrag von Baudezernent Goldschmidt Zukunftsstrategien entwickelt, „ist eine Stadt ohne Zentrum.“
Während sich andere Städte mit vergleichbarer Geschichte neue Zentren bauen, wird Forst, die aussterbende Stadt, weiter ausgedünnt. Hinter der Lücke am Markt werden weitere Plattenbauten weichen. Und am Lindenplatz, gleich neben dem Rathaus, hat man inzwischen begonnen, Einfamilienhäuser zu bauen. „Luxus der Leere“ nennt der Berliner Architekturkritiker solcherlei Wildwuchs. In Forst, daran lassen Goldschmidt und Reibetanz keinen Zweifel, ist man darauf sogar stolz.
Das wird auch in Zukunft so sein. Mittlerweile steht auf der Brache am Forster Marktplatz ein Zelt, daneben ein roter Container. „Ideen für Forst“ sollen hier gesammelt werden. An den Balkonen der vermieteten Wohnungen am Markt hängen bemalte Laken, auf denen sind Wälder zu sehen, Seen, Bäume und ab und an auch ein paar Häuser. Im August, wenn sich der Abriss am Forster Marktplatz das erste Mal jährt, sollen all die Tücher zu einem einzigen, riesigen Tuch zusammengewebt werden, dem „Forster Tuch“.
Die Idee mit dem Tuch kam dem Schweizer Künstler Markus Kiessling. Mit der Künstlergruppe „Spacewalk“ setzt Kiessling beim Stadtumbau in Forst, der längst zum Rückbau geworden ist, eigene Akzente. Dabei sind es weniger die städtebaulichen Planungen, die Kiessling umtreiben, als die Beteiligung der Forster an diesen Planungen. „Wenn jeder Forster ein Stück zum Forster Tuch gibt, ist das keine Planung von oben mehr, sondern ein Patchwork, ein Beitrag von unten“, sagt Kiessling und freut sich über die vielen Tücher, die bereits am Marktplatz und anderen Straßen aus den Fenstern hängen.
Das Forster Tuch ist aber mehr als nur eine neue Form der Bürgerbeteiligung. Es soll im Zusammenarbeit mit dem Forster Textilmuseum und den wenigen Textilbetrieben, die es in der Stadt noch gibt, auch zu einer Marke werden, mit der die Forster Wirtschaft für sich werben kann. Auf dem Wochenmarkt am Berliner Kollwitzplatz kann man bereits Wolldecken aus Forst kaufen. Eine Strategie der „Veredelung“ nennt das Kiessling. „Das Forster Tuch soll künftig für Markenprodukte made in Forst stehen.“
Mittlerweile hat Kiessling nicht nur Reibetanz und die Forster Stadtverwaltung von seinem Konzept der regionalen Ökonomie überzeugt. Auch die polnische Seite ist inzwischen dabei. „Das Interesse an der Vermarktung regionaler Produkte steigt“, weiß Ewa Wojciechowski, die die Kontakte zwischen Forst und seinen polnischen Partnern begleitet. „Das gilt nicht nur für die Produzenten von Lebensmitteln, sondern auch für Handwerker und Kunsthandwerker.“ Wenn im Sommer das Forster Tuch über die Baulücke am Marktplatz gehängt wird, findet im leer stehenden Kaufhaus neben dem Rathaus auch ein Regionalmarkt statt. Mit dabei sind auch Händler aus dem nahe gelegenen Brody, dem einstigen Pförten, sowie der Kleinstadt Lubsko, die wie Forst 23.000 Einwohner hat.
Wenn Jürgen Goldschmidt, der Forster Nachlassverwalter, von den „endogenen Potenzialen“ seiner Stadt redet, kommt er richtig ins Schwärmen. „Lokale Ökonomie“, sagt er dann, „ist schließlich etwas anders als die Schließung einer Stadt.“ Und außerdem wäre ein solches „Titanic-Szenario“, wie er es nennt, auch gar nicht möglich. „Da würde es jede Menge Klagen von Hauseigentümern geben, die Schadensersatz für ihre Immobilien haben wollen. Eine Stilllegung kann sich die öffentliche Hand gar nicht leisten.“
Es gibt aber auch andere Zukunftsszenarien für Forst als die der Stilllegung oder der Regionalisierung der Wirtschaft. Für Bastian Lange vom Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner sind schrumpfende Städte, Dörfer und Regionen nachgerade eine Herausforderung für neue „Raumpioniere“. Diese stammten „aus den Übergangsfeldern Kunst und Ökonomie oder Kunst und Kultur und können infolge ihres Wissenstransfers in die Region als Inkubatoren und Anreger für neue Ideen betrachtet werden“, hat Lange beobachtet. Namentlich leer laufende Teilregionen würden sich immer wieder als „attraktive, nicht überregelte Gestaltungsräume für Akteure aus dicht besiedelten Stadtregionen“ erweisen. Die Bandbreite der Projekte reiche dabei von „kunsthandwerklichen Kompetenznetzen“ etwa in der Holzbearbeitung in Beeskow über landwirtschaftliche Spezialisierung wie im Ökodorf Brodowin bis hin zu „temporären ruralen Arbeitsorten“ von Design- und Medienarbeitern.
Was aber, wenn ein Raum selbst für solche Pioniere nicht attraktiv genug ist oder zu weit vom urbanen Leben entfernt? Was, wenn sich Architekten wie Siegfried Reibetanz oder Künstler wie Markus Kiessling partout nicht als Pioniere begreifen, sondern nicht mehr und nicht weniger im Sinn haben, als die Bewohner ins Zentrum des Geschehens zu rücken?
Auf solche Fragen haben die Forster inzwischen Antworten. Nicht nur die Bilder von Wäldern, Seen, Bäumen und ab und an ein paar Häusern werden sie im August zum Forster Tuch zusammenweben.
Auch für die künftige Nutzung der Baulücke am Markt gibt es inzwischen erste Vorstellungen. Von 1.000 Fragebögen, die die Künstler von Spacewalk und Siegfried Reibetanz verteilt haben, sind 360 zurückgekommen. Nicht nur der Rücklauf, auch die Ergebnisse waren bemerkenswert. Mehr als ein Drittel der Befragten hat sich dafür ausgesprochen, die Brache als Freiraum zu gestalten, mit Liegewiesen, viel Grün und vielleicht ein wenig Wasser. Ein weiteres Drittel der Forster plädiert für Spielplätze. 22 Prozent der Bewohner wollen sich am Marktplatz ihrer Stadt treffen oder ins Kino gehen. Nur eine Minderheit von 7 Prozent will dagegen einkaufen. 6 Prozent der Forster sind sogar offen für weitere Experimente, bis hin zum Anbau von Kartoffeln.
Einen solchen Marktplatz gibt es tatsächlich in keiner anderen Stadt: Die Forster, die es nicht in den Westen zieht, haben sich in ihrer schrumpfenden Stadt eingerichtet und beginnen, es sich gemütlich zu machen. Und manch einen von ihnen wird man, sollte die Stadt eines Tages doch geschlossen werden, an Händen und Füßen vom Marktplatz tragen müssen. Wer gibt seinen „Luxus der Leere“ schon freiwillig auf?