: Für Reiche und Gesunde
Die Gesundheitsreform bringt Vorteile für Wohlhabende – und lässt die alten Strukturen des Systems unangetastet. Vor allem für die Grünen bedeutet das eine herbe Niederlage
In den „Eckpunkten der Konsensverhandlungen zur Gesundheitsreform“ von Ulla Schmidt und Horst Seehofer geht es zwar auch um Gesundheit – vor allem aber geht es um Geld.
Die Gesundheitsexperten der rot-grün-schwarzen Koalition hatten argumentiert, die Finanzierungslücke in Sachen Gesundheit könne man nicht über steigende Lohnnebenkosten decken, weil das zu einer steigenden Arbeitslosigkeit führe. Die mantraartige Wiederholung dieser Behauptung macht sie allerdings nicht wahr. Lohnnebenkosten an sich lassen die Arbeitslosigkeit weder steigen noch sinken. Das mag manche wundern, doch hat die vergleichende Sozialpolitikforschung keinen Zusammenhang zwischen Sozialabgaben und Arbeitslosigkeit feststellen können. Auch in der Praxis wertet man die Dinge nüchtern. Beispielsweise sieht der Vorstandschef der Fluggesellschaft SN Brussels Airlines, der profitablen Nachfolgerin der liquidierten Sabena, den Sozialstaat keineswegs als Problem: Eine gute Kostenstruktur ist laut Kuijpers wichtiger als die Tatsache, dass Betriebe in Belgien mit relativ hohen Lohnnebenkosten konfrontiert werden. „Damit könne man leben.“ (NZZ, 22. 7.) Nun hat Belgien mit die höchsten Sozialabgaben in Europa – die Arbeitnehmer werden weitaus stärker belastet als in Deutschland. Trotzdem gibt es hier eine höhere Arbeitslosigkeit als in Belgien, das zwar auch kein Musterland ist. Aber der Blick über die Grenzen hilft, die Ideologie der Lohnnebenkosten zu durchschauen. Der Chef der Fluggesellschaft hat Recht: Wirtschaftet eine Firma gut, kann sie mit dem Sozialstaat leben.
Die Frage ist freilich, welche Bürger mit weniger Sozialstaat gut leben können. Darum geht es bei der „Gesundheitsreform 2003“ – denn die „Besserverdienenden“ brauchen keine gesetzliche Krankenversicherung. Sie kommen mit privaten Versicherungen oder gar als Selbstzahler zurecht. Das sieht man in den USA, deren Gesundheitswesen gleichwohl das teuerste weltweit ist (gemessen am Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt). Das rot-grün-schwarze Projekt muss also unter der Ungleichheitslupe betrachtet werden.
Die Kosten aus der solidarischen Absicherung werden auf die Beitragszahler verlagert, und zwar sowohl beim Krankengeld wie beim Zahnersatz. Wenn die grüne Bundestagsfraktion stolz vermeldet, dass der Beitragssatz auf 13 Prozent abzusinken verspreche, ist das Augenwischerei: Im Jahr 2007, wenn die Gesundheitsreform wirksam wird, werden die Kosten vom Arbeitgeber- schlicht auf den Arbeitnehmeranteil verlagert: Arbeitgeberanteil: 6,08 Prozent, Arbeitnehmeranteil: 6,93 Prozent. Hinzu kommen noch erhebliche weitere Belastungen der Beitragszahler: Durch Leistungsausgrenzungen und erweiterte Zuzahlungen sollen allein 5,8 Milliarden Euro eingespart werden (zusätzlich zur Herausverlagerung von 3,5 Milliarden Euro für den Zahnersatz und 5,0 Milliarden Euro für das Krankengeld). Für den durchschnittlichen Bürger, vor allem aber für die einkommensschwächeren Haushalte, ergeben sich also nur Nachteile: man zahlt nicht weniger für die Krankenversicherungen, hat aber weniger Leistung. Für die gehobeneren Einkommensgruppen hingegen ergeben sich Vorteile, vor allem für die Gesunden in diesen Gruppen. Was soll daran „grün“ sein (oder auch „rot“)?
Unbegreiflich ist, warum die grüne Bundestagsfraktion in der Vermarktlichung des Gesundheitswesens einen Königsweg zu erkennen glaubt. Vermarktlichung mag zweifellos bei vorhandenen Kartellen zu Dynamisierung führen. Doch die Grünen scheinen die Risiken dieses Prozesses nicht ernst genug zu nehmen. Allein ein Blick auf die Entwicklung des Kliniksektors in den vergangenen zehn Jahren macht sichtbar, dass hier bereits eine dramatische Entwicklung im Gang ist. Die Zahl der öffentlich-staatlichen Häuser geht seit Jahren zurück, die der privaten Krankenhäuser steigt.
Zwar wurden durch dabei entstehende Synergien in Klinikkonzernverbünden Kostensenkungen beobachtet – die bei öffentlichen und gemeinnützigen Trägern gleichwohl auch erreicht werden. Doch der teils erhebliche Profit der Klinikkonzerne und -AGs fließt in Privattaschen. Nachweise für patientenzentriertere Leistungserbringung (oder gar bessere Arbeitsbedingungen) bleibt die „Privatisierungsorgie“ (Horst Seehofer) schuldig. Zudem ist im internationalen Vergleich kein Land bekannt, in dem eine Vermarktlichung des Gesundheitswesens zu einer Kombination von Leistungsverbesserung und Kostensenkung geführt hätte. Mehr Wettbewerb im Bereich der Apotheken und der ambulanten Gesundheitsdienste („medizinische Versorgungszentren“, Ausbau der „integrierten Versorgung“) ist vorteilhaft – hier ist den Grünen Recht zu geben.
Den Durchbruch zu einer Bürgerversicherung versäumt die Gesundheitsreform, das müsste gerade die Grünen quälen. Euphemistisch heißt es deshalb von der Bundestagsfraktion, langfristig bleibe die Bürgerversicherung „auf der Tagesordnung“. Welche „Tagesordnung“ ist damit gemeint? Hier und jetzt ist den grünen Verhandlungsführern jedenfalls nichts dergleichen gelungen. Dabei wissen alle Nichtideologen, dass das größte Finanzierungsproblem der gesetzlichen Kassen die Schrumpfung ihrer Beitragsbasis ist. „Besserverdienende“ wandern in die Privatversicherungen, die am Risikostrukturausgleich nicht beteiligt sind. Und die relativ steigenden Vermögens- und Mieteinnahmen werden an den Sozialversicherungen vorbei geerntet. Keiner der in der Rürup-Kommission verhandelten Vorschläge – ob eine Erweiterung der Gesetzlichen Krankenversicherung für alle Berufsgruppen oder eine „Kopfpauschale“ nach Schweizer Vorbild für alle Bürger – wurde aufgegriffen. Endlich die „Beihilfe“-Regelung für Beamte abzuschaffen, die die öffentliche Hand unnötig kostet und wegen des unvollständigen Kostenerstattungsprinzips (statt des Sachleistungsprinzips der gesetzlichen Kassen) nicht einmal den Beamten nützt – auch das wurde verpasst.
Die wenigen positiven Regelungen geraten demgegenüber ins Hintertreffen: Die institutionelle Beteiligung von Patienten- und Behindertenverbänden und die Installierung eines Patientenbeauftragten (beides hätte man von einer Bundesregierung mit grüner Beteiligung allerdings schon vor vier Jahren erwartet).
Die Zulassung von „medizinischen Versorgungszentren“ in die Regelversorgung.
Die Einbeziehung von Versorgungsbezügen und Selbstständigeneinkommen von Rentnern in die volle Beitragspflicht (warum gilt das nicht für Vermögenseinkommen? Und: warum zahlen Rentner künftig nicht den vollen Kassenbeitrag, sondern weiter nur die Hälfte?)
Man kann also nur hoffen, dass die „Eckpunkte der Konsensverhandlungen zur Gesundheitsreform“ noch ordentlich zerredet werden. So nützen sie nur Teilgruppen – den Gesunden und den „Besserverdienenden“.
MICHAEL OPIELKA