: Israel, jetzt real
Einzige Demokratie im Nahen Osten – oder brutaler Unterdrückerstaat? Die Redaktion der Wochenzeitung „Jungle World“ verreiste für zwei Wochen nach Israel, produzierte dort eine Zeitungsausgabe und glich ihre Projektionen mit der Realität ab. Das Land erwies sich als komplizierter als erwartet
VON TOBIAS RAPP
Jeder junge deutsche Tourist, der einmal in Israel war, wird das Unbehagen kennen, sich als Deutscher im Land der Holocaust-Überlebenden zu bewegen. Doch als reiche dieses diffuse Gefühl der Scham noch nicht aus: Oft genug kommt noch der Spott hinzu. Denn, so stellt man bald fest, als Deutscher mit dem schlechten Gewissen ist man vor allem eine Art Running Gag. Und die Wahrscheinlichkeit von einem jungen Israeli mit einem Holocaust-Witz in Verlegenheit gebracht zu werden, ist relativ hoch. Was tun? Mitlachen? Bedröppelt dreinschauen? Ausdiskutieren?
Auch die Redaktion der linksradikalen Berliner Wochenzeitung Jungle World traf es, und zwar ausgerechnet durch die israelische Comiczeichnergruppe Dimona, die eingeladen war, die prominenten Mittelseiten der Sonderausgabe zu gestalten, die die Jungle World in den vergangenen zwei Wochen in einem Kibbuz bei Jerusalem produzierte und die seit Mittwoch an den Kiosken liegt. Hier wollten die Zeichner einen solchen Witz platzieren. Was sagen? Man behalf sich durch eine Mischung der drei möglichen Reaktionen: Im letzten Bild des Comics umringen die bedröppelten Gesichter der deutschen Redakteure und die lachenden der Israelis einen großen Stempel über dem inkriminierten Witz, auf dem in Frakturschrift „Zensur“ steht.
Anfangs wackelte das Weltbild
„Am Anfang kamen unsere Weltbilder tatsächlich ein wenig durcheinander“, sagt die Feuilletonredakteurin Heike Runge. „Bucht man so etwas einfach unter Zynismus und Okay ab? Unser natürlicher Diskurspartner waren ja erst mal israelische Linke. Denen konnten wir schlecht was über Antisemitismus erzählen. Und die haben als Erstes gesagt: Fahrt zu den Checkpunkten und schaut euch die Gegenwart an.“
Nun ist es an sich schon ungewöhnlich, dass eine Wochenzeitung ihre Computer einpackt und für zwei Wochen ins Ausland fährt, um von dort aus eine Ausgabe zu produzieren. Die Umstände dieser Jungle-World-Sonderausgabe waren jedoch noch einmal speziell. Als „Reise nach Jerusalem“ hatte sie ihre Israelausgabe beworben, ein Titel, der einiges von dem Jux durchscheinen ließ, der auch am Anfang der Planungen stand. Tatsächlich wären die Stühle für die Reise nämlich gänzlich unbesetzt geblieben, hätte die Bundeskulturstiftung sie nicht finanziell unterstützt. Eine linksradikale Wochenzeitung, die auf Kosten einer der Regierung angegliederten Stiftung für zwei Wochen nach Israel fährt, als eine soziale Plastik quasi: Die alte linke Forderung „seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche“ hatte tatsächlich funktioniert.
Seit es die Jungle World gibt – 1996 gründete sich die sich als Abspaltung der Tageszeitung Junge Welt – fährt das Redaktionskollektiv jeden Sommer gemeinsam in einen Arbeitsurlaub. Das war anfangs schlicht und einfach aus der Not geboren, kein Geld zu verdienen und immer arbeiten zu müssen. Warum also nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und als Zeitung gemeinsam wegfahren und über das Land, in das man fährt, eine Sonderausgabe machen? So ging es nach Dänemark, Polen, Italien, Kroatien, Tschechien und Frankreich. Das Inlandsressort verhandelte die Politik des jeweiligen Landes, Deutschland wurde ins Auslandsressort verbannt und jede Ausgabe wurde ein großer Brief nach Hause.
Dass es für die siebte Auslandsausgabe nun ausgerechnet Israel sein sollte, hatte aber noch einen anderen Grund, für den man etwas ausholen muss: die Debatte rund um die so genannten Antideutschen, die die Jungle World seit ihrer Gründung begleitet. Die Grundidee der Antideutschen ist relativ einfach: Der Feind steht im eigenen Land, und alle Übel der Welt sind mehr oder minder dem Streben der Deutschen nach Weltherrschaft geschuldet. Im nationalistischen Taumel der frühen Neunzigerjahre mit seinen brennenden Asylbewerberheimen richteten die Antideutschen ihre Hoffnungen bevorzugt auf Frankreich, in einer Umarmung des französischen Konzepts der civilisation gegen die deutsche Kultur. Als klar wurde, dass auch auf die Franzosen nur bedingt Verlass ist, weil sie zum einen immer wieder Le Pen wählen, sich aber zum anderen mit ihrem alten Erbfeind zusammentun, um an einem Kerneuropa zu bauen, fanden die Antideutschen ein neues Projektionsfeld: Israel. Die einzige Demokratie des Nahen Ostens, umgeben und bedroht von Staaten und Gruppierungen, die dem islamischen Fundamentalismus huldigen.
Nun hatten und haben in der Jungle World alle möglichen linken Positionen ihren Platz, in einem jedoch drückten die Antideutschen der Zeitung nachdrücklich ihren Stempel auf: in einer endlosen, manchmal ermüdenden aber meistens erhellenden und wichtigen Debatte zur Kritik des Antisemitismus, die die Jungle World seit ihrer Gründung ausführlich wie kaum eine andere Zeitung führt. Und in dieser Debatte funktionierte Israel allzu oft eher als eine Chiffre für oder gegen etwas, denn als ein real existierendes Land.
Genau deshalb ging die diesjährige Reise nach Israel. Um die eigenen Vorstellungen und Projektionen, die man mit Israel verband, auf die Wirklichkeit prallen zu lassen und möglichst viele Funken dieses Zusammenpralls mit einer Zeitung aufzufangen. Und es hat funktioniert. Dies ist experimenteller Journalismus, der nicht nur berichtet, sondern die Bedingungen des eigenen Sehens und Hörens ebenfalls zum Teil der Zeitung macht.
Denn die Zeitung informiert zwar auch über die Diskussionen, die gerade in Israel geführt werden, von der Debatte über den Rückzug der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen über die israelische Schwulenbewegung bis zum Boom der Sicherheitsindustrie und den Streit über den Sicherheitszaun. Das eigentlich Interessante sind jedoch die Zwischentöne, die kleinen Beobachtungen am Rande. Wie die Geschichte einer deutschen Anarchistin aus Tel Aviv, die Woche für Woche zu den Demonstrationen gegen den Grenzzaun fährt, aber den Teufel tun würde, jemals auf der anderen Seite des Zauns leben zu wollen. Die kleine Bemerkung, wie sehr die orthodoxen Juden doch der radikalen Linken ähneln („Sie leben vom Sozialamt auf Lebenszeit, gehen ausschließlich ihrer Lieblingsbeschäftigung nach, sind untereinander zerstritten, weswegen sie sich in unterschiedlichste Grüppchen aufgeteilt haben, und als Bürgerschrecke sind sie international berühmt“). Oder das Interview mit dem Schriftsteller Benny Babash, der ein Bild von Israel als einer entlang unzähliger Linien zerklüfteten Gesellschaft zeichnet. Oder sei es in der Reportage über eine Panzerfahrerausbilderin der israelischen Armee, die sich selbst ständig mit der Frage nach den Kriegsdienstverweigerern durchkreuzt. Eine Frage, die unbeantwortet bleibt.
Der Holocaust? Nicht so wichtig
Tatsächlich, sagt Heike Runge, sei sie von zwei Dingen überrascht worden: Von der kleinen Rolle, die der Holocaust in den Gesprächen mit Israelis gespielt habe und wie verfälschend jenes Bild der israelischen Gesellschaft sei, das seinen Fokus ausschließlich auf den Konflikt mit den Palästinensern richte. „Im Bild des modernen Israel fehlen die Siedler und die Orthodoxen, im Bild der Besatzungsmacht fehlt das moderne Israel.“ Keine Partyszene von Tel Aviv ohne die religiösen Spinner jeglicher Couleur, die Jerusalem bevölkern. „Das Land ist komplizierter, als man denkt“, resümiert der Wissenschaftsjournalist Ferdinand Muggenthaler.
So galt es zu überlegen, ob man sich zu dritt in den Gaza-Streifen wagt, obwohl man nur eine einzige schusssichere Weste hat, man musste angesichts der omnipräsenten israelischen Soldaten erstaunt den eigenen Uniformfetischismus konstatieren und erbitterte Streits schlichten, ob ein Besuch in der Gedenkstätte Yad Vashem zum Pflichtprogramm gehört oder nicht. Und zwischendrin galt es immer wieder, die eigenen Wahrnehmungsraster zu rekalibrieren.
Den Streit über die korrekte Position zum Bau des Sicherheitszauns überließ man der israelischen Linken. Was nichts daran änderte, dass das erste antideutsche Abokündigungsschreiben schon eintrudelte, als die Redaktion gerade ihre Computer ausgepackt hatte: Wer den Sicherheitszaun in Frage stelle, habe es nicht besser verdient.
Der Autor war von 1999 bis 2002 Redakteur der Jungle World und ist heute noch Mitglied des Herausgebergremiums